Ein Kreuz in Sibirien
Eierklöße – den Gast anregten, sagte Gordejew am fünften Tag brummig:
»Victor Juwanowitsch, du bist uns ein lieber, angenehmer Gast, immer höflich, nie betrunken, kein Zänker – oh, was kann man alles erleben mit seinen Gästen! –, aber trotzdem: Wir müssen uns trennen. Annas Mutter kommt zu Besuch, wir brauchen das Sofa. Man kann das Großmütterchen doch nicht auf der Erde ruhen lassen! Hab Verständnis für unsere Lage.«
Abukow sah die Gründe ein, bezahlte zum letztenmal seinen Nachtrubel und verließ Gordejews Wohnung. Er fand auch, daß er lange genug in Kiew gewesen war und sich voll in das Leben eingewöhnt hatte. Er nahm Pappkoffer und Brotbeutel, umarmte Gordejew und seine Frau, ließ Marianna schön grüßen und tauchte in den Straßen unter.
Am Nachmittag sah er Jakow Prokopijewitsch im Bahnhof von Kiew am Milchausschank stehen, wie er seinen Becher balancierte und dabei einen stämmigen Mann anstieß.
Ein Vater ist verpflichtet, den Hunger seiner Tochter zu stillen …
Mit der Nachmittagsmaschine der Aeroflot, einer viermotorigen Antonow, flog Abukow nach Perm. Das Tor zum Ural. Die Schwelle nach Sibirien.
Im Flughafen wurde sein Paß peinlich genau kontrolliert. Ein Genosse vom KGB, in einem mausgrauen Anzug, blätterte in den Papieren und starrte dabei Abukow ab und zu mit stechenden Blicken an.
»Ein Freiwilliger sind Sie?« fragte er. »Zur Zentralbauverwaltung wollen Sie? Warum?«
»Es gibt dort gute Rubel, Genosse. Vorerst will ich drei Jahre bleiben. Wenn's mir in der Taiga gefällt – ich würde mir dort ein Häuschen bauen, eine Frau suchen und viele Kinder anschaffen. Das ist doch ganz im Sinne des Aufbaus, denke ich.«
Der Kontrolleur gab die Papiere zurück, nickte kurz und ließ Abukow die Sperre passieren. Mit klopfendem Herzen und heißem Blut schritt Victor Juwanowitsch in die Wartehalle, setzte sich dort auf einen der Kunststoffstühle und blickte aus dem Fenster über das Flugfeld.
Mit einem guten Papier ist auch Sowjetrußland kein Problem mehr, dachte er. Ein ganz normales Flugzeug bringt mich an den Rand der Hölle. Nur in die Hölle hinein, das wird ein unvorstellbarer Weg werden.
Auch mit einem einwandfreien Paß ist noch niemand in ein Straflager gekommen. Dazu gehören andere Papiere.
Vor Victor Juwanowitsch Abukow lag ein Land, von dem die Welt kaum wußte, daß es die stürmischste Entwicklung auf dieser Erde durchmachte. Ein Land, in dem immer neue Städte aus dem Frostboden wachsen – Städte mit Universitäten, riesigen Stahlkombinaten, Erdölfeldern von ungekannten Ausmaßen, Kohlenrevieren und chemischen Werken, deren Namen im Westen keiner kennt. An über 550 Hoch- und Fachschulen in Sibirien studieren fast eine Million junge Menschen. Allein im Gebiet Tjumen fördert man jährlich 600 Millionen Tonnen Erdöl, und über 800 Milliarden Kubikmeter Gas zischen durch die Rohrleitungen. Die unmeßbaren sibirischen Flüsse liefern 80 Prozent der Wasserkraftreserven der UdSSR, davon sind allein 770 Milliarden Kilowattstunden Strom den Flüssen Ostsibiriens zu verdanken – mehr ist das, als alle Flüsse der USA zusammengenommen an Wasserkraft produzieren können. Die Turbinen am Jenissej mit seinen unzähligen Nebenflüssen wie Angara, Podkamennaja, Tunguska, Nischanja Tunguska, Chantaika und so weiter, schicken 250 Milliarden Kilowattstunden Elektrizität in alle Winde.
Wer weiß, daß aus dem Stahlhütten-Kombinat Kusnezk in Westsibirien ein Drittel aller Eisenbahnschienen Rußlands kommen? Daß die Stahlkonstruktion des Kongreßpalastes von Moskau und des Kulturpalastes von Warschau genauso hier geschmiedet wurden wie die Armaturen des ägyptischen Assuan-Staudammes oder die Gleise der Budapester U-Bahn? Sibirischer Stahl, sibirisches Öl, sibirisches Gas, sibirisches Holz und sibirische Kohle machen dieses Gebiet zwischen ewigem Frost und glühender Wüstensteppe zum reichsten Land der Erde. 79 Prozent des gesamten sowjetischen Aluminiums produziert Sibirien. Hat man im Westen schon gehört von den Industriegebieten in Petrowsk, Sabaikalsk, Schelesnogorsk, Udokansk und Chrustalny? Wer kennt das moderne Kobaltwerk von Tuwinsk? Einmal wird vielleicht die Zeit gekommen sein, wo ein Überleben der Menschheit von Sibirien und seinen Bodenschätzen abhängt.
Die Plankarte des Zentralplanungsstabes von Sibirien wurde von Wissenschaftlern aller Richtungen, von Architekten, Geologen und Geophysikern nach den neuesten Erkenntnissen der Bodenforschung
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