Ein Kreuz in Sibirien
die Hand. »Der Genosse Rassim wird uns auch in den nächsten Tagen nicht in Ruhe lassen. Wenn die Schneeschmelze einsetzt – ich habe Angst davor. Im Plan steht: Rodung und Planierung von Abschnitt 19 bis 25. Im Feld 22 Bau von zwei Brücken. Im Feld 18 bis 21 Abschluß der Vorbereitungen für den Rohrleitungsgraben. Das gesamte Einsatzgebiet liegt im Sumpf- und Überschwemmungsgebiet, wenn die Schneeschmelze beginnt.«
»Das ist nichts Neues, schöne Genossin.«
»Sehen Sie sich den Zustand der Leute an, Dshuban!«
»Bin ich blind?«
»Laut Verfügung der Zentrallagerverwaltung stehen jedem arbeitenden Strafgefangenen täglich 2.413 Kalorien zu.«
»Bitte, schweigen Sie, Larissuschka! Lassen Sie mich nicht umfallen vor Lachen!«
»Nicht einmal die Hälfte bekommen sie hier – bei zehn Stunden Arbeit in der Taiga!«
»Machen Sie eine Eingabe nach Tjumen oder gar Perm. Man wird Ihnen keine Brotwagen schicken, sondern für Sie privat einen Psychiater.«
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, daß man streiken könnte?«
Dshuban starrte Larissa Dawidowna an, als habe sie ihm undamenhaft ins Gesicht gerülpst. Dann strich er sich über seine pomadisierten Haare und schob nervös seinen Krawattenknoten hin und her.
»Streik in einem Straflager. Das ist doch hirnverbrannt. Ja, total verrückt ist das. Genossin, entsetzlich zu denken, was dabei herauskäme.«
»Es gibt historische Beispiele. Der Streik in Workuta. Die Demonstration in Karaganda. Wir haben Hunger, haben Tausende geschrien. Ohne Brot keine Arbeit …«
»Und was haben sie erreicht, na? Wie ging's aus, meine Liebe?« Dshuban hüstelte, holte aus dem Rock ein Taschentuch mit feiner Spitzenkante und tupfte sich über die weibischen Lippen, denen nur die Schminke fehlte.
»Militär rollte heran, eine Einheit des KGB sperrte das Gebiet ab. Maschinengewehre und Granatwerfer gingen in Stellung …«
»Aha! Aha!«
»Aber die Streikenden wichen nicht zurück. Lieber erschossen werden als verhungern, schrien sie. Sie bildeten einen dichten Block, einen Klotz aus Leibern, und warteten. Was geschah? Man schoß nicht in die Menschenmenge – ein Genosse aus der Zentralverwaltung erschien, stellte sich auf einen Lastwagen und hielt eine Rede. Er gab den Hungernden recht. Er habe Verständnis dafür, daß sie nach Brot schrien. Jede Arbeit sei ihre volle Suppenschüssel wert. Man wisse, es mangele an Kascha und Fleisch, an Fisch und Getreide, aber man wolle das schnell ändern. Rußland sei ja noch im Aufbau; wenn man erst einmal den Reichtum seines Bodens nutze, dann werde es den Sowjetmenschen besser gehen als allen anderen Völkern. Aber für dieses Ziel müsse man eben arbeiten bis zum Umfallen! Kein Paradies ohne den Einsatz von Hammer und Sichel.«
»Die Ausbildung unserer Parteiredner ist vorzüglich«, sagte Dshuban. »Wurden die Leute in Karaganda und Workuta davon satter?«
»Ja! Es gab größere Rationen. Es gab sogar Fleisch in den Suppen. Das Brot schimmelte nicht mehr. Der Leiter der Zentralbäckerei verschwand selbst in einem Lager. Eine ungeheure Hoffnung kam auf.«
»Und jetzt?« fragte Dshuban ahnungsvoll.
»Workuta ist aufgelöst. Karaganda soll ein Musterlager sein, das sogar westlichen Besuchern offensteht. Wohlgemerkt: Eingeladenen Staatsgästen.« Larissa lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen. Ihre Bluse spannte sich über den Brüsten; Dshuban nahm das wahr, ohne daß es ihn interessierte. »So etwas spricht sich herum, auch andere Lager streikten …«
»Und der Erfolg?«
»Schweigen …«
»Da haben Sie's! Und wetten wir, schöne Genossin, kein Lager hatte einen Kommandanten wie Rassul Sulejmanowitsch! Unvorstellbar, bei ihm könnten die Gefangenen streiken. Ha, das grenzt an Wahnsinn! Nicht vier unter den tausend hier im Lager wird man finden, die so etwas wagten. Und diese vier würde Rassim am Hauptturm neben der Einfahrt aufhängen, bis die Krähen sie zerhackt haben. Jeder Aufstand braucht seinen Führer – ist hier einer? Ich sehe nur schlotternde Gerippe, die den Löffel küssen, wenn ein Stück Fleisch draufliegt.«
»Aber wenn das so weitergeht, Dshuban«, sagte Larissa eindringlich, »haben wir im Frühjahr nach der Schneeschmelze mehr Schaufeln als Männer.«
»Ist das ein Problem, Genossin?« Dshuban grinste schief und ließ endlich seinen geblümten Schlipsknoten los. »Mit den nächsten Transporten, nach dem großen Schlamm, kommen aus Perm und Tjumen neue Stolypin mit frischen Sträflingen.
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