Ein Kreuz in Sibirien
zählte die Rubel auf den Zahlteller.
Vor dem Bahnhof war der Platz, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte, leer. Ein interessierter Genosse hatte das Rad geklaut, aber es mußte ein höflicher Genosse gewesen sein, denn er hatte Abukows Pappkoffer und Militärbrotbeutel losgebunden und an die Mauer gelehnt. Es gibt doch noch anständige Gauner.
Abukow seufzte, nahm den Koffer und Beutel und setzte sich in den Wartesaal des Bahnhofs. Stanislaw ist eine kleine Stadt mit einem fruchtbaren Hinterland, und so waren viele Bauern unterwegs, die den Ertrag ihrer eigengenutzten Felder auf den Stadtmärkten anboten. Dank einer Planwirtschaft, die noch nie funktioniert hatte, waren nicht nur die Züge in die Großstädte mit Bauern und ihren Körben, Kisten und Säcken überfüllt – sogar in den Flugzeugen saßen sie, Ferkelchen in Flechtkörben auf dem Schoß, und ließen sich nach Kischinew, Kiew oder sogar bis Gomel fliegen. Die Flugpreise waren so niedrig, daß bei Verkauf von zwei Ferkeln und ein paar Hühnern immer noch ein guter Gewinn übrigblieb.
Für ein paar Kopeken kaufte sich Abukow eine große Zwiebel, zwei schöne, saftige Möhren und ein Stück Bauernbrot und aß, an der Wand sitzend, mit knackenden Kaumuskeln. Zweimal in der Wartezeit ging ein Milizionär durch die Räume, aber er kontrollierte nicht, es war ein Routinerundgang, den er unlustig hinter sich brachte, um seine Pflicht zu erfüllen.
Bisher war Abukow nur zweimal nach seinem Ausweis gefragt worden. Das erstemal hielt ihn, als er nach Stanislaw fuhr, eine Straßenstreife an. Zwei freundliche Milizionäre auf schweren Motorrädern.
»Sagen Sie nichts, Genossen!« rief Abukow und hob klagend beide Hände in den Nachthimmel. »Ich kenne meine Schuld. Keine Lampe am Rad! Fahre gewissermaßen unsichtbar. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Seht, ich bekenne mich schuldig. Aber was soll ich machen? Jemand klaute mir die Lampe – und wo bekomme ich eine neue her? Herumgelaufen bin ich. Von Werkstatt zu Werkstatt. Den vierfachen Preis habe ich geboten. Nichts! Gar nichts zu machen! ›Eine Fahrradlampe‹, lachte mir der Genosse von der Werkstatt ins Gesicht. ›Eine einzelne Lampe, ohne Fahrrad dran – Freundchen, lüften Sie Ihr Gehirn aus! Bestellen kann ich sie, aber wann und ob sie überhaupt ankommt – da sollten Sie mal einen Leserbrief an die PRAWDA schreiben.‹ Es ist eine Tragik, liebe Genossen!«
Die Milizionäre – einer von ihnen roch angenehm nach Wodka und hatte blanke Augen – lachten, klopften Abukow auf die Schulter und verlangten seinen Paß. Nur einen kurzen höflichen Blick warfen sie hinein, verglichen nicht einmal das Foto mit dem Inhaber und fragten: »Was, mein Lieber, machen Sie um diese Zeit auf der Straße? Von der Arbeit kommen Sie nicht.«
»Gewissermaßen doch.« Abukow blinzelte den beiden Polizisten kameradschaftlich zu. Unter Männern gibt es Argumente, die lassen sich nur mit einem Augenrollen erklären. »Kennen Sie Marija Allujewna, Genossen?«
»Nein.«
»Wäre es so, würden Sie keine Fragen mehr stellen. Sobald Marija mit dem süßen Hintern wackelt, kleben Sie an ihr fest. Ein Stündchen, so zur Erholung nach der Arbeit, wollte ich bei ihr verbringen – seht selbst, was daraus geworden ist! Und um sieben muß ich wieder hinter dem Steuer sitzen und einen Dreiachser fahren. Die Augen fallen mir zu. Oh, Marija …«
Die Milizionäre lachten wieder, gaben Abukow einen Klaps, und er konnte weiterfahren ohne Licht am Rad.
Das zweitemal, als er angehalten wurde, erzählte er den gleichen Vers von der unermüdlichen Marija Allujewna und unterstrich seine Erschöpfung durch ein langes, stöhnendes Gähnen. Auch diesmal wurde er mit fröhlichem Winken losgelassen – wer hat als Mann nicht Verständnis für ein tolles Weibchen?
Das hätte Monsignore Battista hören müssen, dachte Abukow, als er endlich Stanislaw erreicht hatte. Woher wissen Sie so was, hätte er sicher gefragt. Sie müssen ja besonders schwarze Lämmchen im Beichtstuhl gehabt haben, um sich so mit Theorie aufzuladen.
In Kiew blieb Abukow vier Tage und wohnte bei einer Familie Gordejew. Er schlief im Wohnraum auf einem Sofa und bezahlte dafür pro Nacht einen Rubel – ein sündhaft teurer Preis. Kennengelernt hatte er Jakow Prokopijewitsch Gordejew in der Bahnhofshalle von Kiew. Er stieß mit ihm zusammen, als er sich am Milchausschank ein Glas heiße Milch mit Honig holte und dazu eine Wecke aß. Gordejew balancierte sein Glas von der
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