Ein Kreuz in Sibirien
Eine Zeile meines Auftrags kann ich abstreichen. Stimmt es dich milder mir gegenüber, Herr im Himmel?
Er legte den Arm um Larissas Schulter und zog ihren Kopf zu sich heran. »Weine nicht«, sagte er leise. »Nun ist es ja vorbei. Ein erster Schritt … so viel ist noch zu tun.«
Taschbai Aidarow , der Danilo, marschierte auf die Bühne ins Licht. Arikin mußte ihn fast in den Hintern treten, so bebte er – aber als er in die Scheinwerfer trat, war er wirklich der elegante Kavalier, und seine Stimme versetzte schon bei den ersten Tönen die Zuhörer in Entzücken. Vor allem Dshuban Kasbekowitsch war nicht zu halten; er saß hinter Rassim , beugte sich jetzt vor und flüsterte ihm mit heißem Atem ins Genick: »Ist er nicht süß? Oh, wie schwebend er geht, und diese Stimme, überwältigend!«
Rassim knurrte wie ein angeketteter Hofhund, wischte sich über den Nacken, als habe Owanessjan s Atem einen Fettfilm hinterlassen, und stierte dann wieder auf die Bühne. Margarita Susatkaja flirtete als Hanna Glawari , daß sich ihm die Haare sträubten. Er wehrte sich dagegen, er drohte sich in Gedanken an, sich selbst zu ohrfeigen, aber trotz aller Gegenwehr erlag er von Minute zu Minute mehr dem Zauber der Operette, dem Klang der Melodien, der Schönheit auf der Bühne. Theatermachen ist schön, dachte er verbittert. Verdammt zum Satan mit euch allen, es ist wirklich schön. Man muß sich überlegen, wie man das verbieten kann.
Nach dem ersten Akt, als der Vorhang fiel, war der Beifall nur noch ein einziges Toben, ein Klatschen und Brüllen. Oberst Kabulbekow schrie mit, schwitzte vor Begeisterung und trat Rassim auf den Fuß, als dieser stur sitzen blieb.
»Sie Riesenkaktus!« brüllte er. »Gibt's denn gar nichts, was Ihre Stacheln bricht? Können Sie überhaupt nicht fröhlich sein?«
»Ich überlege«, sagte Rassim dumpf, »wie man nach zwölf Stunden Trassenarbeit und einem jämmerlichen Fressen noch so tanzen kann. Da stimmt etwas nicht!«
Hinter der Bühne fiel die Susatkaja mit einem Juchzer Abukow um den Hals und küßte ihn. »Verzeih, Väterchen!« rief sie. »Aber ich kann nicht anders! Welch ein Tag! Und dein Werk ist's. Ein Engel ist nach Sibirien gekommen.«
Nach drei Stunden war die Premiere der ›Lustigen Witwe‹ im Straflager 451/1 beendet. Noch einmal tobte minutenlang der Beifall, dann winkte Rassim , ohne geklatscht zu haben, und die Soldaten, als Kette zwischen den Männern und Frauen sitzend, trieben die Häftlinge wie eine Viehherde aus der Halle hinaus und hinein ins Lager. Kabulbekow war hinter die Bühne gerannt und drückte ›seinen phantastischen Weibern‹ die Hände. Auch Dshuban Kasbekowitsch war nicht zu halten: Er küßte Taschbai Aidarow ab wie einen Schoßhund. Abukow kam von der Bühne und prallte auf Wolozkow , dessen Augen noch glänzten.
»Begeistert bin ich«, sagte er und drückte Abukow die Hand. »Fast ein Wunder, was Sie aus diesen Jammergestalten noch herausholen können. Nur eine Frage: Gibt es verschiedene Fassungen der ›Lustigen Witwe‹? Ich habe sie anders in Erinnerung von einer Aufführung in der Oper von Sewastopol auf der Krim.«
»Ein großes Opernhaus, Genosse Wolozkow «, sagte Abukow und breitete beide Arme aus. »Welche Möglichkeiten hat man dort, und wie bescheiden müssen wir sein. Einiges streichen mußten wir und umändern – aber ist es nicht gut gelungen?«
»Sehr gut gelungen, Victor Juwanowitsch . In meinem nächsten Bericht wird es lobend erwähnt. Einsetzen werde ich mich dafür, daß das Orchester richtige Instrumente bekommt. Gratuliere, Genosse!«
Vor der Autohalle stand noch Rassim in der Nacht und wartete auf Kabulbekow . Als er Abukow sah, kam er auf ihn zu und stieß ihm die Faust gegen die Brust.
»Das war ein Triumph für Sie«, sagte er hart. »Und Ihr Auftritt, Abukow – enorm! Einen Popen haben Sie gespielt … geradezu zum Kotzen! War die einzige Stelle im Stück, die mich begeisterte!«
Damit ließ er den erstarrten Abukow stehen, stapfte zur Hallentür zurück und nahm Kabulbekow in Empfang, der umringt von ›seinen Weibern‹ ins Freie trat.
Und plötzlich meldete sich der Winter an.
Geballte Wolken zogen auf, sich drehende, dahinjagende graue Gebirge, die Sonne wegwischend wie einen störenden Fleck. Ein kalter Wind bog die Kronen der Taiga. Das bunte Herbstlaub, diese flammende Farbenpracht an Millionen Bäumen, zerstob zu verdorrtem Abfall. Dann öffnete sich der Himmel wie auf einen Schalterdruck, das Wasser
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