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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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verantwortlich für den neugestalteten Text der Operette und die Bühnenregie, bekam Schwierigkeiten mit dem Darsteller des Marquis de Lumiere, einer völlig neuen Gestalt in der ›Lustigen Witwe‹, die Arikin nur zu dem Zweck erfunden hatte, die Kirchenszene einzubauen. Der Marquis sollte sagen: »In meinem Haus wird jeden Tag eine Messe gelesen. Erst Gott, dann das Vergnügen!« Ein blöder Text, zugegeben, aber der Darsteller bekam nur deshalb plötzlich Angst vor dieser Rolle, weil er in der ersten Reihe Rassim sitzen sah.
    »Der springt auf die Bühne und bringt mich um«, zeterte er. »Umgeändert werden muß das. Ist ja nur ein einziger Satz. Laß dir etwas anderes einfallen, Miron Salomowitsch . Schnell! Warum heißt man Salomon? Nun sei einmal weise.«
    Viel zu früh für alle hinter der Bühne begann die Ouvertüre. Durch den Vorhang hörte man die Musik, vor allem das Gedröhn der Benzintonnen-Pauke und die Blechtrommeln. Kein Zurück gab es mehr – die Premiere hatte begonnen.
    Bataschew kam von der Seite auf die Bühne und hatte Tränen in den Augen. »Wie das klingt …«, stammelte er. »Oh, wie himmlisch das klingt! Wie aus den Wolken schwebt es nieder.«
    Aidarow , der Danilo, krümmte sich vor Lampenfieber. Hinter einem hohen Versatzstück stand Margarita Susatkaja in einem prachtvollen Abendkleid und sang sich leise ein. Abukow , in schwarzem Anzug und weißem Hemd, winkte nach allen Seiten. Bühne frei! Gleich hebt sich der Vorhang. Ein historischer Abend beginnt. Der erste öffentliche Gottesdienst in einem Straflager, eingebaut in eine Operette, in Gegenwart des Kommandanten, aller Offiziere und des KGB!
    Und dann begann ein Zauber, der sofort auf alle übersprang, die da unten in der großen dunklen Autohalle Bank an Bank saßen und zur hell erleuchteten Bühne starrten. Ein gestöhntes Oh und Ah klang auf, als die Susatkaja in ihrem Spitzenabendkleid auftrat und ihre helle, schöne Sopranstimme mühelos den weiten Raum füllte.
    Wenig später – gleich am Anfang oder gar nicht, hatte Arikin gemeint – sagte der Marquis de Lumiere mit mühsam fester Stimme den Satz, der Abukow s große Szene einleitete: »In meinem Haus wird jeden Tag eine Messe gelesen. Erst Gott – dann das Vergnügen …«
    Abukow trat auf die Bühne. Alle waren sie nun um ihn versammelt, die ganze Gemeinde, als Darsteller oder Komparsen, als Beleuchter oder Bühnenarbeiter, und unten vor dem Orchester hob der Dirigent Nagijew mit zitternder Hand den Taktstock. Abukow blickte hinunter zu Rassim und Kabulbekow , die neben einander saßen. Wolozkow hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
    »Es steht geschrieben im Evangelium des Johannes, Kapitel 11, Vers 25 bis 26«, sagte Abukow mit lauter, fester, feierlicher Stimme: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben …« So still war es im weiten Raum, daß nur der Atem der Männer und Frauen wie ein langgezogenes Seufzen klang. »Lasset uns singen und voll Hoffnung und Freude sein an diesem schönen Tag!«
    Nagijew schlug den ersten Takt, das Orchester setzte ein: die selbstgeschnitzten Holzflöten, die selbstgebauten Balalaikas, die einsame Geige, die Trompete, die Benzintonnentrommel, die aus Blech gedrehte Riesentuba. Und alle auf der Bühne sangen mit, die Augen geschlossen, um Rassim nicht ansehen zu müssen, oder mit einem Blick weit über alle Bankreihen hinweg in die Ewigkeit:
    Erhöre, Herr, erhöre mich
und steh mir bei barmherziglich in allen meinen Nöten!
Wenn noch so tief mein Herz betrübt,
du bist's, der ihm den Frieden gibt,
drum will zu dir ich beten.
    Ich ruf dich, wann die Sonn aufgeht,
wann mitten sie am Himmel steht
und wann sie abgegangen.
Mein Flehen steigt zu dir empor,
du neigst zu mir dein gnädig Ohr,
verscheuchst des Herzens Bangen.
    Wann ich nur hoff auf dich allein,
so wirst du Trost und Schild mir sein,
wirst allzeit für mich sorgen.
In aller Trübsal und Gefahr
bleibst du mein' Zuflucht immerdar,
bei dir bin ich geborgen.
    Rassim hatte sich nach vorn gebeugt und starrte finster vor sich hin. Kabulbekow saß weit nach hinten gelehnt und genoß den Chorgesang. Als dieser beendet war, beugte er sich zu Rassim hinüber und sagte ihm etwas ins Ohr. Aber Rassim schüttelte nur den Kopf und winkte kurz ab. Wolozkow, der neue KGB-Offi zier, blickte etwas verwirrt auf die Bühne und scharrte mit den Stiefeln über den

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