Ein Kreuz in Sibirien
rauschte aus der grauen Unendlichkeit – kein Regen war's, sondern ein unheimlicher Sturz, als sei plötzlich ein riesiger Wassersack geplatzt, der über der Taiga hing.
Die in den Wald geschlagenen Arbeitsstraßen wurden unpassierbar. Aus kleinen Flüssen wurden Ströme. Aus Rinnsalen ergoß sich eine Flut über das Land. Die Seen liefen über. Der mächtige Ob riß an den Ufern und überschwemmte weite Gebiete – die Trasse der Erdgasleitung ersoff in gurgelnden Strudeln.
Für Tage ruhte alle Arbeit. Zwar rief Rassim bei Morosow an und kündigte seine Arbeitsbrigaden an, aber der Chefingenieur fragte ärgerlich: »Was soll ich mit denen? Sollen sie den Regen in Säcke sammeln für den kommenden Sommer? Hier gibt es nichts mehr als Wasser und Schlamm. Ich melde mich, wenn die Arbeit wiederaufgenommen werden kann!«
Auch Surgut ertrank im Regen. An Transportfahrten in die Lager war nicht zu denken, und so saß man bei Smerdow im Zentralmagazin herum, spielte Schach oder Billard, besoff sich mit Wodka oder Wein oder lag einfach nur im Bett, wenn man das Glück hatte, ein Weibchen für sich allein beanspruchen zu können.
Bataschew war solch ein glücklicher Mensch. Die aktive Witwe Grigorjewa holte nach, was Bataschew im Sommer durch seine neu entdeckte Theaterleidenschaft vernachlässigt hatte, und er begriff einfach Abukow nicht, der sich heftig wehrte, als er ihm eine dralle Freundin der Witwe zur Verfügung stellen wollte.
»Die Schlammperiode ist die Zeit der großen Liebhaber«, belehrte er Abukow . »Im Sommer wird gearbeitet, im Winter auch – aber wenn's regnet, wenn es draußen naß ist und kalt, aber im Bett trocken und warm … Victor Juwanowitsch , ich sage dir: Die Freundin der Grigorjewa ist wie ein Tatarenpferdchen!«
Abukow bedankte sich für diese freundschaftliche Fürsorge, zeigte aber lieber bei Smerdow , welch erstaunlicher Billardspieler er war.
Politkommissar Ilja Stepanowitsch Wolozkow , Jachjajews Nachfolger, hatte die ersten großen Auseinandersetzungen mit Rassim und schickte ihm durch einen Boten die Ausführungsverordnungen zur politischen Erziehung der Strafgefangenen. Mit Rotstift hatte er bestimmte Stellen angestrichen, die besagten, daß einem Lagerkommandanten nur die Sicherheit und Bewachung der Verurteilten zustehe, die Schulung aber ganz allein Sache des dazu Beauftragten war. Und beauftragt war Wolozkow .
Rassim gab in der Kommandantur dem armen Boten eine Ohrfeige, schleuderte die Broschüre an die Wand und schrie, daß es Wolozkow im Nebenzimmer hörte:
»Ha! Soll ich mir meine Rechte und Pflichten vorhalten lassen von einem Bürschlein, dem noch die Muttermilch aus dem Mündchen läuft?«
Wolozkow hielt trotz allen Ärgers sein Versprechen: Er schrieb einen langen Bericht über die Aufführung der ›Lustigen Witwe‹ an die Zentrale nach Perm und schickte eine Abschrift davon an das Komitee zur geistigen Betreuung von Straftätern nach Swerdlowsk. Sein Vorschlag: Zuweisung von Musikinstrumenten und Noten für ein Orchester. Lobend erwähnte er auch die neue Gewerkschaft ›Theater Die Morgenröte‹, die wirkliche Kulturarbeit leiste in einem wilden, kaum erschlossenen Gebiet Sibiriens.
Unvermutet erschien Mustai in Surgut. Er kam aus der Taiga mit einem großen Transporthubschrauber – einem jener bulligen Fluggeräte, die Bagger und Planierraupen, Teile von Bohrtürmen und Turbinen befördern können. Er überraschte Abukow in seinem Zimmer und sagte nach der Begrüßung: »Du erkennst Morosow nicht wieder. Tag und Nacht steht Wladimir Alexejewitsch mit seinem Raupenwagen im Schlamm am Flußufer und beobachtet die Flut. Um seine neuartige Brückenkonstruktion geht es – sie wackelt! Der ganze Streckenabschnitt ist in Gefahr. Wenn die über den Fluß geführte Erdgasleitung reißt, war ein halbes Jahr Arbeit umsonst. Morosow steht da im Regen und starrt den Fluß an, als könne er ihn hypnotisieren.«
»Gegen die Natur ist der Mensch nur ein kraftloser Zwerg«, sagte Abukow .
»Mag sein.« Mustai aß Abukow s Abendessen auf – kalte Frikadellen mit Gurken und Zwiebeln, dazu ein Batzen Brot – und schüttelte dabei den Kopf. »Aber Morosow wollte klüger sein als Regen, Wind, Fluß und Erde. Alle haben ihm gesagt: Leg die Leitung durch den Fluß, auf den Grund – aber nein, er sagte immer: Meine Konstruktion ist sicherer. Was geschieht, wenn unten im Fluß die Leitung undicht wird? Na? Was dann, Genossen? Wenn der Boden sich bewegt, wenn der Fluß ihn
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