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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Betonboden.
    Der Dirigent Nagijew atmete auf und senkte den Taktstock. Das Orchester schwieg, und die Musiker drückten die Instrumente an sich, als hätten sie Angst, daß sie ihnen jetzt weggerissen werden sollten.
    »Es gibt keinen Tag ohne IHN und keine Nacht«, sagte Abukow unbeirrt, »kein Leben und kein Sterben. Er sieht unser Lachen und unsere Tränen. Er hört unser Flehen und unseren Dank. Denn ER ist die Ewigkeit und die Erfüllung allen Seins. Was sind wir ohne IHN? So groß und mächtig dünken wir uns, so stark und weltbewegend, und sind doch ein Staubkorn, das durch das All taumelt und nur für kurze Zeit vom Licht der Sonne getroffen wird. Ein Aufleuchten ist es nur, und das nennen wir unser Leben! Wie wichtig nehmen wir uns in dieser Sekunde im Weltenraum, und wie winzig sind wir doch im Gefüge des Grenzenlosen. O meine Brüder – alles Leid dieser Erde wird aufgehen im Glanz der ewigen Seligkeit. Seid dessen gewiß und deshalb stark in allem Elend. Amen.«
    Auf der Bühne formierte sich der Chor zu einer neuen Ordnung. Der Dirigent Nagijew , Rassims starren Blick im Nacken, hob wieder seinen Taktstock. Die Geige und die Handharmonika setzten ein, ihnen folgten zart die Holzflöten und die singenden Balalaikas. Da Rassim sich nicht umblickte, sah er nicht, wie hinter ihm vierhundert Menschen lautlos weinten.
    Und der Chor sang:
    Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet
und auch wieder bald vergehet,
so ist unser Leben, sehet!
    Ach wie nichtig, ach wie flüchtig
sind der Menschen Tage!
Wie ein Strom beginnt zu rinnen
und mit Laufen nicht hält innen,
so fährt unsre Zeit von hinnen.
    Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
ist der Menschen Freude!
Wie sich wechseln Stund und Zeiten,
Licht und Dunkel, Fried und Streiten,
so sind unsre Fröhlichkeiten.
    Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
ist der Menschen Glücke!
Wie sich eine Kugel drehet,
die bald da, bald dorten stehet,
so ist unser Glücke, sehet!
    Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
ist der Menschen Prangen!
Der in Purpur hoch vermessen
ist als wie ein Gott gesessen,
dessen wird im Tod vergessen.
    Ach wie nichtig, ach wie flüchtig
sind der Menschen Sachen!
Alles, alles, was wir sehen,
das muß fallen und vergehen.
Wer Gott fürcht't , wird ewig stehen.
    Der Dirigent Nagijew starrte zu Abukow empor und spürte den rinnenden Schweiß auf seiner Stirn. Daß hinter ihm, wo Rassim saß, nichts geschah, begriff er nicht. Aber als Abukow ihm kurz zunickte, sich umdrehte und quer über die Bühne abging, vorbei an seiner Gemeinde in den bunten Kostümen der ›Lustigen Witwe‹, da ließ er den Taktstock wippen, und nun folgte – Arikins genialer Gedanke – als Abschluß der neue große Walzer, der wieder hinüberleitete zu der Musik von Franz Lehár.
    Bei den ersten Klängen des Tanzes löste sich die Starre auf der Bühne. Das Ballett, sieben Mädchen aus dem Frauenlager und sieben Häftlinge, wirbelte über die Bühne, der ganze Chor schloß sich an, und es war ein so berauschendes Bild, daß Oberst Kabulbekow , zum Entsetzen Rassims , aufsprang und spontan in die Hände klatschte.
    »Bravo!« brüllte Belgemir Valentinowitsch . »Bravo!« Und zu Rassim hinunter, der mit böser Miene sitzen blieb, schrie er: »Meine Mädchen! Das sind meine Mädchen, Rassul Sulejmanowitsch , Sie Eisenklotz! Wie sie tanzen, ha! Und diese Musik, ein Walzer ist das, ein Wiener Walzer! Rassim , Sie haben ein faules Ei in der Brust, aber kein Herz!«
    Hinter der Bühne warf sich Abukow auf einen Stuhl und ließ erschöpft die Arme hängen. Larissa Dawidowna , die neben dem zurückgezogenen Vorhang gewartet hatte, stürzte zu ihm und schlang die Arme um ihn.
    »Wie habe ich gezittert«, stammelte sie. »Mein Herz setzte ein paarmal aus. Was hast du gewagt, mein Liebling! Welch ein Mut! Gebetet habe ich, die ganze Zeit für dich gebetet. Entsetzlich waren die Minuten und doch so himmlisch! Geschafft hast du es! Du hast deine Kirche im Lager, dein Kreuz in Sibirien!« Sie drückte den Kopf an seine Schulter und weinte laut wie ein Kind.
    Abukow atmete ein paarmal tief durch. Jetzt, wo alles vorbei war, wo die Vorstellung weiterlief, wo Rassim nicht auf die Bühne geschossen hatte und der rauschende Walzer die letzte Gefahr hinwegspülte, jetzt spürte er eine ungeheure Erschlaffung in sich, eine tiefe Müdigkeit – aber keinerlei Triumph oder Siegesstimmung. Es ist gelungen, dachte er nur. Ein Ziel, ein kleines Ziel, ist erreicht.

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