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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Rassim wie eine Strafe des Himmels erschienen, so brach das Schicksal geradezu elementar über ihn herein, als Dr. Owanessjan sich bei ihm meldete: in einem eleganten Blaufuchspelz und nach Parfüm duftend. Rassim schnüffelte wie ein Hund, hieb dann die Faust auf den Tisch und schrie: »Ich kann Sie nicht riechen! Hinaus!«
    Am Abend machte Dshuban seine erste Visite in der chirurgischen Abteilung. Dabei entdeckte er den hellblonden Sträfling Jossip Kusmanowitsch, der sich zwei Zehen abgefroren hatte, und untersuchte ihn in einer Privataudienz. Natürlich erfuhr Rassim so etwas sofort; er stürzte ins Hospital, fand einen sehr fröhlichen Dr. Owanessjan in einem seidenen, bestickten Kimono vor, allerdings allein im Zimmer, und mußte sich in zitternder Wut anhören, wie Dshuban sagte:
    »Ich sehe, es ist hier nicht üblich, vor dem Eintritt ins Zimmer anzuklopfen. Morgen werde ich meine Türschlösser auswechseln und einen Innenriegel anbringen. Wo kann ich Ihnen helfen, Genosse Kommandant? Was darf ich Ihnen wegschneiden?«
    Kaum war Dr. Owanessjan im Lager JaZ 451/1 eingetroffen, folgte der zweite Schicksalsschlag für Rassim: Genau drei Tage später meldete sich Dr. Larissa Dawidowna Tschakowskaja. Die Zentralverwaltung für ärztliche Versorgung arbeitete erstaunlich schnell.
    »Mir ist unbekannt, welche Verbrechen gegen den Staat ich begangen habe«, klagte Rassim wenig später in dem Offizierskasino nach etlichen Gläsern Wein. »Zwei Ärzte solchen Kalibers! Bewache ich Strafgefangene, oder bin ich selbst ein Verdammter?«
    Der schlimmste Tag im Lager war für Oberstleutnant Rassim jedoch der Tag, an dem man einen Toten fand, dem jemand einen Hühnerknochen in die Kehle gepreßt hatte. Im gleißenden Licht der Scheinwerfer erschien der Kommandant im Inneren des Lagers und baute sich vor den angetretenen Häftlingen auf.
    Mit einem langen Blick streifte er die zerlumpten, hohläugigen Kolonnen, und zweitausendfünfhundert Augen starrten ihn, wie er festzustellen glaubte, voll Feindschaft an. Genau genommen waren es zweitausendvierhundertvierundneunzig Augen – sechs Häftlinge hatten während ihrer Strafzeit ein Auge verloren.
    »Ein Mord ist hier geschehen!« sagte Rassim, nachdem ihm Leutnant Sotow ein Mikrophon gereicht hatte, das mit den Lautsprechern rund um das Lager verbunden war. Die Stimme hallte weit und donnergleich über Baracken, Werkstätten, Garagen und Verwaltungsgebäude bis weit in die Dunkelheit hinein. »Der Genosse Poljakow wurde gewaltsam mit einem Hühnerbein erstickt. Ich spare mir die sinnlose Mühe, das Lager durchsuchen zu lassen, und frage euch: Sind die Täter bereit, sich freiwillig zu meiden?«
    Als niemand antwortete, hob er kurz die Hand. Das Maschinengewehr vor ihm knatterte los und fegte eine Salve über die Köpfe der Sträflingsblöcke hinweg. Nur wenige duckten sich oder zogen den Kopf ein. Die Mehrzahl stand gerade und unbeweglich und starrte geradeaus auf Rassim.
    »Wir können es auch zehn Zentimeter tiefer«, sagte Rassim kalt. »Und ich verantworte es vor allen Instanzen. Es gibt Sondergesetze für Revolten, und dieser Vorfall ist eine Revolte. Ehe sich die Täter nicht melden, rührt sich keiner von euch von der Stelle! Es ist Befehl gegeben, auf jeden zu schießen, der seinen Platz verläßt!«
    Er überblickte noch einmal die 1.200 stummen, starrgesichtigen Männer, wartete schweigend zwei Minuten, um anzudeuten, daß er den Tätern Gelegenheit gab, vorzutreten – dann hob er die Schultern und sagte laut zum Abschied: »Welch eine feige Bande!« Mit weitausgreifenden Schritten verließ er den inneren Lagerbereich.
    Leutnant Sotow, der das Nachtkommando übernommen hatte, schaltete das Mikrophon aus. Es knackte ein paarmal in den Lautsprechern, und dann begann die Marschmusik. Hallend tönte sie über das ganze Lager; die stampfenden Rhythmen hämmerten auf die Köpfe der Sträflinge. Man wußte: Das würde jetzt so bleiben, stundenlang, tagelang. Knallende Musik aus allen Ecken. Märsche, Volkslieder, Opernmusik, Sinfonien – das Tonbandarchiv der Lagerverwaltung war bestens sortiert. Und man wußte auch: Eine Stunde lang war die Musik erträglich, nach drei Stunden zuckten die Hirnnerven, nach sechs Stunden kam der Schmerz, der den ganzen Körper durchzog, nach zwölf Stunden war jeder Ton ein Hammerschlag auf den Kopf, nach zwanzig Stunden kroch der Wahnsinn in einem hoch. Nach vierundzwanzig Stunden schrie man mit oder lag auf dem Boden und stopfte sich die

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