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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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an.
    »Victor Juwanowitsch …«, stammelte Polewoi und mußte mehrmals schlucken. »Gott im Himmel, wer bist du?«
    »Ich bin gekommen, um eure verwaiste Gemeinde zu übernehmen.«
    »Ein … ein Priester ist er …«, sagte die Tschakowskaja. Es machte ihr Mühe, das Wort im Zusammenhang mit Abukow auszusprechen. In das unaussprechliche Gefühl von Freude und Befreiung mischte sich die Bitterkeit der Erkenntnis, daß alles, was beim Anblick Abukows tief in ihrem Herzen in Wallung geraten war, verdrängt und vergessen werden mußte. Ein Priester! Ein Mann wie Abukow … Ein Mann! Ein Priester! Unmöglich, das jetzt zu trennen, so plötzlich, so gemein brutal: Kein Mann – nur ein Priester. Nur …?
    »Ja.« Abukow knöpfte sein Hemd wieder zu und zog die Jacke darüber. »Jetzt bin ich endlich völlig bei euch.«
    »Und … und du bleibst?« Polewoi sah ihn mit sorgenvollen Augen an.
    »Solange ihr mich braucht, Brüder.«
    »In alle Ewigkeit, Victor Juwanowitsch.«
    »So wird es sein.« Abukow lauschte nach draußen. Über das Lager tönten die Lautsprecher, aber man konnte die Worte nicht verstehen. Es war anzunehmen, daß Rassim sein Ultimatum stellte: Die Mörder sollen sich stellen, oder es hagelt Repressalien. »Ich habe gesehen, daß Pjotr nur wenig tun konnte als Sträfling.«
    »Die Gemeinde hat er hier aufgebaut. Und wir hatten unsere Gottesdienste. Wir haben gebetet. Wir haben Gottes Wort gehört. Davon wurden wir nicht satt – aber es war Trost. Wir haben die Kunst gelernt, mit Trost den Hunger zu neutralisieren.« Polewoi stellte die Urinflasche neben sich auf die Erde und fuhr sich mit beiden Händen durch das weiße Haar. »Du bist mit Hühnern, Schmalz und Eiern gekommen. Das ist ein doppeltes Wunder.«
    »Und habe gleichzeitig einen Toten erzeugt.«
    »Das bedrückt dich, Victor Juwanowitsch?«
    »Meine Aufgabe ist es, Leben zu erhalten.«
    »Der Auftrag Gottes wird sich nie verbinden lassen mit den Gesetzen des Lagers«, sagte Polewoi ernst. »Das wirst du noch von uns lernen müssen, Bruder. Wie Gott später darüber richten wird, wenn wir vor ihm stehen – daran denken wir jetzt nicht. Wir leben diesen Tag in der Hoffnung, auch den nächsten Tag zu überstehen – das allein ist unser Denken. Und wir beten, daß Gott uns die Kraft gibt, diesen heißen Sommer und den kommenden Winter durchzuhalten. Dieses Jahr, nächstes Jahr, ein Jahrzehnt. Du ahnst nicht, wie der Mensch am Leben hängt, wenn er es stündlich verlieren kann. Jeden Abend, wenn wir auf unserer Pritsche liegen, überströmt uns ein seliges Gefühl: Geschafft! Diesen Tag hast du noch gelebt. Und die Nacht gehört auch dir. Herr im Himmel, gönn uns auch den morgigen Tag. Das ist unser Gebet. Und um diesen neuen Tag kämpfen wir!«
    »Mit Mord?«
    »Auch damit!« Polewoi faltete die Hände vor der Brust. »Du wirst es lernen. Noch viel wirst du lernen. Kommst aus dem Himmel in die Hölle, das ist ein Sprung über alle Sterne hinweg.« Er atmete tief und blickte hinüber zu der Tschakowskaja. Auch sie hatte die Hände gefaltet. Bleich war ihr Gesicht, kantiger als sonst, und sehr viel älter, als habe sie plötzlich Jahre übersprungen. Auf einmal, blitzartig, erkannte Polewoi ihre Qual und hatte tiefes Mitleid mit ihr. Nur Hilfe konnte ihr keiner mehr bringen. Das Leben ist hundsgemein, dachte er. Da spürst du nun die vielen kleinen Wunder der Liebe, mein Töchterchen, und gleichzeitig heißt es auf alles verzichten, was dein Körper ersehnt. Ein Priester ist er … Larissa Dawidowna, es sei dir erlaubt, zu verzweifeln.
    »Wir sind glücklich, daß du gekommen bist!« sagte Polewoi mit erstickter Stimme. »Gib uns deinen Segen.«
    Abukow schlug schnell das Kreuz. Er hörte Stimmen, die näher kamen. Das Geschenk der einsamen Minuten war aufgebraucht. Er stieß sich von der Tür ab; Professor Polewoi ergriff wieder seine Urinflasche und lief ein paar Schritte weg in den Gang hinein; die Tschakowskaja knöpfte ihren Arztkittel auf, zog ihn aus und hängte ihn über den linken Arm. Die grünbraune Uniform, auf ihren schönen Körper zurechtgeschnitten in der Schneiderei des Lagers, stand ihr gut.
    Mit einem Knall schlug die Tür gegen die Wand: Rassim stürmte ins Hospital und grunzte zufrieden, als er die Tschakowskaja noch im Vorraum sah.
    »Arbeit bekommen Sie, meine Liebe!« schrie er enthusiastisch. »Natürlich hat niemand von der Bande mein Ultimatum beachtet. Keiner weiß was, keiner hat was gesehen, gehört oder gerochen!

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