Ein Kreuz in Sibirien
sieht aus wie wir, atmet wie wir, spricht unsere Sprache, ist elend wie wir alle, der Hunger schreit ihm wie uns aus den Augen, und dieser Mensch sagt: ›Ha, ich habe was entdeckt! Hühner und Speck und Eier und Quark bringt ihr heimlich ins Lager und freßt es im Dunkeln wie die Ratten. Ich hab's gesehen! Vergeßt nicht, daß auch ich einen Mund habe zum Schlucken und, wenn's sein muß, zum Reden.‹ Und das kleine Stück Himmel, Abukow, was Sie uns gebracht haben, das bißchen Sattsein wird zu einer Todesdrohung. Ich frage Sie: Was hätten Sie getan?« Polewoi winkte ab, bevor Abukow eine Antwort fand. »Warum frage ich überhaupt, Genosse? Wer immer satt ist, wer im Rahm schwimmt – wie kann er die Gefühle und die Gedanken eines Menschen begreifen, für den eine Handvoll Mehl mit etwas Zucker eine königliche Mahlzeit ist? Ein Hühnerknöchelchen mit etwas Fleisch und Haut daran, man könnte davor niederknien.«
»Nur vor Gott kniet man nieder«, sagte Abukow und sah dabei die Tschakowskaja an. »Warum schützen Sie die Verurteilten, Larissa Dawidowna?«
»Ist das ein Verhör, Genosse?« fragte sie steif zurück.
»Ja!«
»Aha! Aha!« rief Polewoi mutig. »Jetzt ist es heraus! Geben Sie Alarm, Genosse! Eine gute Falle war das. Gratulation, eine bestialische Falle – würdig der Hölle, in der wir leben. Doch bevor die Verhöre beginnen, sei gesagt: Die Ärztin Larissa Dawidowna hat keine Ahnung von diesen Dingen. Sie weiß nichts von den Lebensmitteln.«
»Sie weiß nur, daß der Genosse Poljakow mit einem Hühnerbein ermordet wurde. Und sie redet davon, es könnte auch ein Stückchen von einer Wildente sein, gefangen, gebraten und gegessen draußen im Sumpf.« Abukow blickte von der Tschakowskaja zu Professor Polewoi. Kalte Abwehr schlug ihm entgegen. Gefrorene Gesichter. »Wollen wir nicht endlich ehrlich zueinander sein?« sagte er und knöpfte sein Hemd auf. Aber die Hand behielt er noch flach vor der Brust.
»So hat es bei mir angefangen, als man mich geholt, mich verhaftet hat.« Polewoi schüttelte den Kopf. »Sei ehrlich, Professor, gib zu, was wir schon wissen. Wirst es dann leichter haben mit allen Behörden, die sich um dich kümmern werden. Immer der gleiche Ton, die gleichen Worte. Ich war ehrlich! Und was ist daraus geworden? Zwanzig Jahre Zwangsarbeit in Sibirien. Drei Jahre habe ich rum, siebzehn noch vor mir. Sehen Sie mich an! Kann ich noch siebzehn Jahre Taiga erleben? Warum zwanzig Jahre? Warum nicht sofort: Tod! – Und nun stehen Sie da, Abukow, und sagen zu uns: Seid ehrlich! Muß man da nicht lachen? Noch einmal ehrlich sein? Noch eine Verurteilung obendrauf?« Polewoi schüttelte wieder den Kopf, daß seine weißen Haare flogen. »Ich bin schon tot, Abukow … bitte, keine Mühen mehr! Unser Land braucht noch unsere winzige Arbeitskraft, nur darum dürfen wir alle weiterleben!«
»Das war eine gute Rede, Georgi Wadimowitsch«, sagte Abukow fast feierlich. »Verzeiht mir alle, daß ich ein anderes Gesicht trug, um zu prüfen, ob ihr fähig seid, die Wahrheit zu verkraften. – In eurer Mitte gab es einmal einen Freund, den ihr Pjotr nanntet …«
»Er … er ist lange tot …«, sagte Polewoi heiser. Sein Blick irrte zu Larissa Dawidowna. Die Tschakowskaja hatte sich besser im Griff; sie lehnte sich Abukow gegenüber an die Wand und schlug mit der Spitze ihres linken Stiefels den Takt eines Liedes, das nur sie im Inneren hörte.
»Wie gut Sie informiert sind, Genosse«, sagte sie kalt.
»Pjotr war ein Priester.« Abukows Stimme senkte sich noch mehr. Im gleichen Augenblick zuckte er zusammen. Vom Lager klang die Salve eines Maschinengewehrs herüber.
Polewois Augen weiteten sich, er begann zu zittern. »Das kann er doch nicht machen«, stammelte er. »Das kann Rassim doch nicht … Larissa Dawidowna, er kann doch nicht einfach in die Menge schießen!«
»Ich bin zu euch gekommen, um Pjotrs Stelle einzunehmen«, sagte Abukow und atmete schwer. Es blieb bei der einen Maschinengewehrsalve. Die Stille war lähmend, wie nach einer Hinrichtung. »Habt Vertrauen! Und glaubt mir: Was jetzt da draußen geschieht, habe ich nicht gewollt.«
Er nahm die flache Hand von der freiliegenden Brust und zog das Hemd etwas auseinander. Polewoi und die Tschakowskaja starrten ihn an, blickten auf seine nackte Brust und auf das in Silber geprägte kleine Kreuz, das ihm an einer dünnen Kette um den Hals hing. Plötzlich ging ein Beben durch beider Körper; es war, als hielten sie den Atem
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