Ein Kreuz in Sibirien
die Decke weg.
Rassim blickte zur Seite. »Der Ernährungszustand ist unwichtig!« rief er.
»Er gehört in jeden Obduktionsbericht. Die Ausführungsbestimmungen gerichtsmedizinischer Obduktionen schreiben vor, daß …«
»Wir sind hier nicht in Leningrad, sondern in Nowo Wostokiny!« Rassim hob den Bericht hoch über seinen Kopf. »Und hier: Was heißt verwunderlich?!«
»Ich betrachte es als sehr verwunderlich, wenn ein Mann in einem Straflager an Urethritis posterior erkrankt.«
»Wieso ist das ein Wunder? Was ist das, diese Ure…«
»Ein Tripper!« sagte Dr. Owanessjan mit sichtbarer Wonne. »Nach der ganzen Sachlage kann es nur ein fortgeschrittener Tripper sein, Genosse Kommandant. Poljakow muß sich vor etwa sechs Wochen infiziert haben. Bestimmt nicht an einem Hühnerknochen – also nenne ich das sehr verwunderlich …«
»Wichtig allein ist doch«, entgegnete Rassim heiser, »daß man Poljakow das Genick gebrochen hat. Man hat ihn erschlagen. Der Hühnerknochen ist nur eine zusätzliche Demonstration. Danach könnte es nur ein Mörder sein.«
»Möglich!« Dr. Owanessjan zog aus der Tasche einen Flacon mit Parfüm und besprühte sich die Hände. Ein schwerer süßer Duft zog durch den Raum. Rassim kniff die Lippen zusammen, drehte sich mit Schwung um und rannte aus dem Zimmer. Dshuban folgte ihm, traf in der Eingangshalle auf Larissa Dawidowna und nickte ihr zu:
»Wohin gehen Sie mitten in der Nacht?«
»Ins Lager. Es wird nicht lange dauern, und die ersten fallen um.« Die Tschakowskaja knöpfte ihren Uniformrock zu. Auf den grünen Kragenspiegeln leuchteten die goldenen Symbole des medizinischen Dienstes und auf den Schulterklappen die vier Sterne des Kapitäns. Es sah aus, als ginge sie zu einer Parade.
»Sie wollen Rassim ärgern, ist es so?« Dr. Owanessjan wiegte den Kopf. »Erwarten Sie, daß er Ihnen erlaubt, die Ohnmächtigen zu untersuchen oder gar abzutransportieren? Solange sich der Täter nicht meldet, läßt der Kommandant niemanden ran.«
»Das kann er nie verantworten. Spätestens bei Sonnenaufgang wird er die Aktion abbrechen.«
»Wollen wir es hoffen, Larissa Dawidowna. So wie jetzt habe ich Rassim jedenfalls noch nie gesehen. Warten Sie einen Augenblick, ich hole nur meinen Rock und begleite Sie …«
Schon von weitem sah Larissa, wie Abukow mit Mustai vom Lagertor her über den Platz kam, und wieder empfand sie das schmerzhafte Zucken an ihrem Herzen bei den mahnenden Gedanken: Er ist ein Priester! Vergiß, daß er ein Mann ist. Sieh sein Kreuz und nicht die Brust darunter.
Ihr Schritt wurde langsamer, zögernder, aber da Owanessjan an ihrer Seite ausschritt, mußte sie mithalten, und jeder Meter, den sie Abukow näher kam, steigerte den Schmerz in ihrem Herzen. Dann stand sie vor ihm, ihre Blicke kreuzten sich. Seine jetzt sehr ernsten Augen schienen sie zu bitten: Hilf mir!
»Es war einwandfrei ein Sühnemord«, sagte Dshuban Kasbekowitsch. »Der Hühnerknochen ist nur eine Art Signalflagge: Wer etwas weiß wie Poljakow und den Mund nicht hält, der endet ebenso! – Die Frage ist: Was wußte Poljakow? Ich glaube, wir müssen mit einem sehr entschlossenen Rassim rechnen.«
»Schwierigkeiten wird er bekommen«, sagte die Tschakowskaja. »Wie ein Khan aus früheren Zeiten kommt sich Rassul Sulejmanowitsch vor. Alleinherrscher in den Wäldern! Aber an diesem Anspruch wird er scheitern.«
Noch einmal blickte sie Abukow tief in die Augen, riß sich dann los und ging zum Lagertor und den Soldaten, die sich dort versammelt hatten. Dshuban Kasbekowitsch sah ihr nach und seufzte laut. Nicht Larissa Dawidownas Schönheit ergriff ihn so, sondern die Ahnung, daß der untergründige Kampf zwischen Rassim und der Tschakowskaja auch ihm eine unruhige Zeit bescheren würde.
»Völlig aus der Art fällt sie«, sagte er und legte den Arm um Abukows Schulter. Dabei drückte er ihn leicht. Es war eine zärtliche Geste, und Abukow ließ es widerwillig geschehen. Doch als Dr. Owanessjan ihm vorschlug, bei ihm noch ein Gläschen Wein zu trinken, lehnte er höflich ab.
»Ich muß morgen zurück zur Zentrale. Eine beschwerliche Fahrt. Da muß man munter und frisch sein. Stellen Sie sich vor, mir klappen die Lider zu und ich fahre den kostbaren Kühlwagen in einen Sumpf oder gegen eine Zeder. Als Sabotage könnte man das sogar auslegen. Diese Folgen, Genosse Arzt! Heben wir es auf – ich komme ja wieder.«
Dr. Owanessjan nickte glücklich, erkannte die Argumente an, streichelte Abukow
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