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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Ohren mit Erde zu.
    Langsam ging Abukow auf das große, offene Tor des Lagers zu. Hier standen dichtgedrängt die Zivilangestellten und beobachteten die angetretenen 1.200 Häftlinge. Traten die Mörder vor?
    Wurden sie verraten? Wann fielen die ersten um vor Schwäche?
    Auch der unheimlich fette Gribow mit seiner Geliebten Leonowna stand herum, ebenso der Leiter der Autowerkstatt, der Genosse Nikita Borisowitsch Rakscha, der Leiter der Schreinerei, der Vorsitzende der Schneiderei und die Genossin Pulkeniwa, die für die Wäscherei verantwortlich zeichnete. Nicht zuletzt der geradezu winzige Genosse Sakmatow, der sich bei starkem Wind überall festhalten mußte, als sei grober Seegang, sonst wäre er umgeblasen worden – und ausgerechnet er war, man soll's nicht glauben, Chef der Schmiede. Wenn er einen Hammer ergriff und hochhob, glaubte man an Wunder. Er war ein Künstler und entwarf herrliche barocke Ziergitter, die von neun Häftlingen geschmiedet wurden und die Sakmatow – so klein, so haushoch raffiniert! – in Surgut und auch in Tjumen verkaufte. Sogar in Swerdlowsk tauchten Sakmatow-Ziergitter auf. Im geheimen war der Winzling schon ein reicher Genosse.
    Kurz vor dem Tor stand auch Mustai Jemilianowitsch. Er sah Abukow kommen, atmete tief auf und vertrat ihm den Weg. Dabei legte er beide Hände flach auf seine Brust.
    »Väterchen …«, flüsterte er.
    »Halt den Mund und komm mit!« sagte Abukow grob.
    »Soeben habe ich es erfahren. Wie gelähmt bin ich …«
    »Kein Wort mehr, Mustai!«
    »Mit mir hast du keine Sorge, ich bin Mohammedaner. Bin nie übergetreten. Aber was soll das heißen, Väterchen? Ist man erst einmal verdammt, haben wir alle nur einen Gott, zu dem wir sprechen können. Ob Allah oder euer Christus – der Himmel ist immer über uns.« Er hielt Abukow am Ärmel fest, als dieser weitergehen wollte: »Wohin, Brüderchen?«
    »Einen Blick ins Lager will ich werfen.« Abukow griff nach der Hand Mustais. »Ohne meine Hühner wäre das nicht geschehen. Ein schreckliches Gefühl, schuldig zu sein. Ich komme hierhin, um zu helfen – und was wird daraus? Ein mörderisches Chaos!«
    »Nur schweigen kannst du jetzt«, sagte Mustai und hielt Abukow noch immer fest. »Alles andere nützt keinem und schadet nur noch mehr. Schluck es einfach herunter.«
    »Was?«
    »Das Gefühl von Schuld! Wer hier gelandet ist, bereut nichts, was er tut. Alles hat nur ein Ziel: Überleben! – Das wirst du alles noch lernen, Victor Juwanowitsch. Viel mußt du lernen, um in Sibirien leben zu können. Das Wort deines Gottes ist ein Schluck Wasser – mehr nicht. Am Tag sind die Bäume der Taiga und die Sümpfe stärker, und in der Nacht hast du genug zu tun mit den Schmerzen deiner Knochen. Vergiß alles, was du als Priester in einem normalen Leben gelernt hast.«
    »Wir alle haben ein Gewissen, Mustai!«
    »O du Eierkopf – verzeih, Väterchen!« Mustai hakte sich bei Abukow unter. »Habt ihr nicht ein Gebot: Du sollst nicht stehlen? Haha, und was hast du getan, nicht einmal, immer, wenn du mit deinem Kühlwagen Nummer 11 ankommst? Den sowjetischen Staat hast du beklaut, hast mit Gribow halbe-halbe gemacht – natürlich nur, um deine Hälfte den Ärmsten der Armen weiterzugeben. Aber bleibt alles nicht trotzdem ein Diebstahl? Ein Priester stiehlt … sieh an, wie schnell man sich an sibirische Verhältnisse gewöhnen kann! Schlägt dein Gewissen, wenn du fünfzehn Hühnerchen und Schmalz und Butter und Quark unter den Zaun schiebst?«
    »Hier ist durch mich ein Mensch getötet worden, Mustai!«
    »Ein Verräter, kein Mensch«, sagte Mirmuchsin kalt. »Sag bloß keinem hier, daß ein Verräter wie ein Mensch zu behandeln ist. Deck deinen Gott zu, wenn so etwas vorkommt! Du kannst für ihn beten, aber du wirst ihn nie vor den anderen retten können.«
    Sie gingen langsam zum Tor und trafen dort auf den fetten Gribow, der vor innerer Ergriffenheit laut schnaufte. »Ha!« schrie er, als er Abukow kommen sah. »Da ist er! Da ist der Genosse, der bezeugen kann, daß genau die Zahl der Hühner im Kühlhaus hängt, die er mit seinem Wagen angeliefert hat. Victor Juwanowitsch, zeig die Transportpapiere! Verdächtigungen schlägt man mir hier um die Ohren … mir zuckt das Herz! Will man mir doch anhängen, daß die Hühnchen aus meinem Lager kommen. Ersticken will ich an jedem Knochen, der aus meinem Haus kommt. Hier, Genossen!« Gribow zeigte auf Abukow. »Das ist der Zeuge! Der ehrenwerte Abukow. Ihm müßt ihr

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