Ein Kreuz in Sibirien
Sie sollen behandelt werden, wie sie es verdienen: Das ganze Lager bleibt angetreten stehen, bis sich die Mörder melden. Die Nacht über, den ganzen Tag, die nächste Nacht und, wenn's sein muß, die ganze Woche. Ohne Essen, ohne Trinken. Bis ich eine Meldung habe. Ich bekomme sie mürbe wie Tatarenfleisch, das schwöre ich Ihnen, mein Engelchen! Rufen Sie ruhig in Moskau an … das hier ist eine Revolte, und für den Fall einer Gefangenenrevolte habe ich Sondervollmachten. Selbst wenn sie alle umfallen wie blutleere Wanzen: Ein Rassim gibt nicht nach!« Er holte tief Luft. »Wollen Sie ins Lager, zarte Ärztin, um die Umfallenden zu versorgen?«
»Man wird sie mir bringen«, sagte die Tschakowskaja und versuchte den Haß in der Stimme zu verbergen.
»Irrtum!« Rassim brüllte vor Freude. »Mein Befehl lautet: Liegenlassen! Den Engel von Sibirien müssen Sie schon am Ort spielen.« Plötzlich, jetzt erst, bemerkte er Abukow, der in der Türecke stand. »Unser Theatergenie! Unser neuer Stanislawski! Los, lauf raus, sieh dir meine Inszenierung an! Ein totaler Bühnenerfolg: Der Chor der 1.200 Stimmlosen. Was willst du hier noch mit deinem dämlichen Schiller?«
Mit gesenktem Kopf verließ Abukow das Hospital. Draußen schallte ihm Musik entgegen. Aus den Lautsprechern dröhnten Marschmelodien über das Lager. Von allen Wachttürmen strahlten die Scheinwerfer. In ihrem gleißenden Licht standen die Blöcke der Sträflinge – eine dunkle Masse aus Lumpen, Gliedern und Köpfen.
Ein schmerzhaftes, zermürbendes Schuldgefühl lähmte Abukows Bewegungen. Er blieb stehen, spürte das Klopfen seines Herzens bis in die feinsten Nerven und unterlag für wenige Augenblicke dem Zweifel, ob er der richtige Mann für die ihm übertragene Aufgabe sei.
Den Bereich der Sträflinge betrat Lagerkommandant Rassim nur äußerst selten. Um die Baracken zu inspizieren, die Werkstätten, die Küche oder das Magazin – dafür hatte er seine Offiziere, die sich des täglichen Kleinkrams annahmen. Wenn er mit Jachjajew Schach spielte, erfuhr er ohnehin alles, was aus dem Lager berichtenswert war. Um so mehr kümmerte er sich um das Hospital, denn hier sah er die Quelle aller Unannehmlichkeiten. Ein Sträfling steckt voller Tricks, sobald es darum geht, sich vor der Arbeit zu drücken. Gewiß, man konnte sagen: Das ist sein gutes Recht, alles zu versuchen, was sein Leben leichter macht. Gefährlich für den gesamten Einsatzplan wurde es jedoch, wenn die Ärzte auf diese Tricks hereinfielen und das von Rassim festgelegte Höchstmaß an Kranken weit überschritten.
Mit Ärzten hatte Rassim von Anfang an seine Qual gehabt. Während er aus anderen Lagern erfuhr, wie reibungslos dort alles ablief und daß die morgendliche Selektion ein Vergnügen war wie Blumenpflücken, mußte er sich im eigenen Lager mit einem Dr. Semlakow – dem Vorgänger von Larissa – herumschlagen, der jeden Krankgemeldeten peinlich genau untersuchte und mindestens wöchentlich einmal nach neuen Betten schrie und die medizinische Versorgung als unzureichend reklamierte. Dr. Semlakow schrieb lange Berichte nach Tjumen und Perm, sogar an die Zentralverwaltung nach Moskau, aber er erhielt nie eine Antwort. Eine Antwort war auch nicht möglich, weil Rassim die gesamte Post vor der Verladung in den Lastwagen nach Surgut noch einmal durchwühlte und die Eingaben von Dr. Semlakow aus dem Verkehr zog. Die Folgen kennt man: Semlakow beging völlig zermürbt Selbstmord.
Aber auch der Chirurg Dr. Fewraljow – der Vorgänger von Dshuban Kasbekowitsch – rieb sich auf, wenngleich nicht an der Arbeit. Da sein Fachgebiet die gynäkologische Chirurgie war, mit der er in einem Männerlager nichts anfangen konnte – sehen wir von den wenigen Weibchen ab, die in der Verwaltung eingesetzt waren, wie etwa die Chefköchin Leonowna –, gehörte auch die medizinische Betreuung des nahe gelegenen Frauenlagers zu seinem Aufgabenbereich. Einmal in der Woche hielt er dort eine Ambulanz ab und operierte. Das genügte! Fewraljow, ein Hüne von Kerl, wohl er einzige, der es mit dem Stier Rassim aufnehmen konnte, schlug sich ein Jahr lang verzweifelt mit einer Syphilis herum, bis die Krankheit ihn derart aushöhlte, daß die zentrale medizinische Verwaltung ihn in ein Sanatorium an den Aralsee bringen ließ. Dort verlor sich seine Spur. Briefe, die Rassim ihm schrieb, kamen mit dem Vermerk: ›Empfänger hier nicht zu ermitteln‹ wieder zurück.
Waren schon diese Ärzte dem Kommandanten
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