Ein Kreuz in Sibirien
Dawidowna?«
»Ja.«
»Ernsthaft?«
»Es wird schlimmer, wenn ich Sie ansehen muß.«
»Das beruhigt mich.« Rassim grinste. »Bei soviel Gift in Ihrem Körper kann sich keine Krankheit entwickeln. – Bekomme ich einen Hospitalbericht?«
»Wir haben neununddreißig Hitzeschlagfälle und neunundachtzig lebensbedrohliche Erschöpfungen mit Kreislaufzusammenbrüchen.«
»Das hört sich besser an als erwartet.« Rassim ließ seinen Blick über die Tschakowskaja wandern. Sie ist nackt unter der Seide, erkannte er. Nun ja, ein heißer Abend ist's. Und wie man weiß, liebt sie es, außerhalb der Dienstzeit ihren Körper kaum zu bedecken. Trotzdem ist sie heute anders als sonst. Wie soll man das erklären – nur eine Empfindung ist's. »Dann haben wir ja Hoffnung« – er suchte in seinen Taschen nach einer Zigarette –, »daß übermorgen die Brigaden ausrücken können und Morosow den Mund hält.«
»Vielleicht.« Die Tschakowskaja hob die Hand, sie zitterte noch immer. »Was suchen Sie da?«
»Eine Papyrossi. Wenn Sie gestatten, Genossin.«
»Nein! Ich gestatte nicht. Gehen Sie!«
»Sie sind merkwürdig verändert, Larissa Dawidowna.«
»Ich bin wie früher!« schrie sie plötzlich mit heller Stimme. »Zum Teufel, gehen Sie endlich!«
Rassim wiegte den Kopf ein paarmal hin und her, betrachtete noch mal den von der dünnen, anschmiegsamen Seide bedeckten schlanken Körper und verließ wortlos das Zimmer. Die Tschakowskaja blieb sitzen, hob plötzlich die Schultern, und wieder durchlief ihren Leib ein heftiges Schütteln und Frieren.
Zwei Stunden lang hatte sie unter der Dusche gestanden und in der Wanne gelegen, um Morosows Geruch aus ihren Poren zu waschen; seinen Schweiß, in dem sie sich wie ein silberner Fisch gewunden hatte; seine Hände, die sich in ihr Fleisch eingegraben hatten; seine Lippen, die überall auf ihrer Haut rote Saugflecken hinterlassen hatten – und nach zwei Stunden wußte sie, daß es vergeblich war. Daß auch ein Dampfbad in der Banja sie nicht mehr reinigen konnte. Daß Morosow in ihr blieb und daß es ihre Schuld war, die sich nie wieder löschen ließ. Ihre Flucht vor Abukow und ihre Rache an Abukow. Wie recht hatte Rassim: Eine andere war sie geworden!
Sie hockte in ihrem Sessel, hatte die Hände gegen den verschenkten Schoß gepreßt und stierte ins Leere. Vier Spiegel hingen in ihrer Wohnung, und sie hatte sie mit Handtüchern verhängt. Sie konnte sich nicht mehr ansehen. Sie ekelte sich vor sich selber.
Novella Dimitrowna hatte es gepackt, es war ein nervlicher Zusammenbruch. Nur mit Mühe gelang es Abukow, Novella in die Wohnung von Mustai zu zerren und dort auf das alte Sofa zu legen.
Sie würgte noch immer. Mustai hielt ein Handtuch unter kaltes Wasser, wrang es aus und legte es ihr über die Stirn. Sie zuckte zusammen, schloß die Augen, streckte sich und lag dann regungslos.
»Ich verbrenne innerlich«, stotterte Mirmuchsin und raufte sich die Haare. »Rassim, dieser Höllenhund! Wie kann man hier noch helfen? Was sind hier noch Gebete wert, Väterchen.«
»Nenn mich nicht Väterchen!« Abukow zog Mustai vom Sofa weg in eine Ecke des Raumes. »Das Wort kann tödlich sein.«
»Da draußen fallen sie um. Fallen wie vertrocknete Fliegen von der Wand. Hunderte! Und wir stehen hier herum, starren Löcher in die Luft und wissen nicht, was wir tun sollen. Ja, ich bringe ihn um. Irgendwann und irgendwo lauere ich ihm auf und bringe Rassim um. Einen angespitzten Pfahl stoße ich ihm ins Gedärm und nagele ihn auf der Erde fest. Und während er brüllt und sein Blut verdampft, werde ich neben ihm hocken und auf der Hirtenflöte blasen: Verirrt hat sich ein Lämmelein, ihm folgt ein grauer Wolf …«
»Und was wird sich ändern? Nichts. Ein neuer Kommandant wird kommen, das ist alles.« Abukow lehnte sich gegen die Wand und behielt Novella im Blick. Sie schien noch immer bewußtlos zu sein. Trotzdem senkte er die Stimme, als er weitersprach: »Weshalb hat sich der Mörder nicht gemeldet?«
»Warum sollte er? Er hat es getan, um die anderen zu schützen.«
»Es hätten Hunderte sterben können!«
»Schweigend wären sie gestorben – ist das nicht heldenhaft?«
Abukow schwieg. Es hatte keinen Sinn, Mustai zu erzählen, daß es durchaus nicht heldenmütig war, für fünfzehn Hühner den Tod von vielen Menschen hinzunehmen. Er hätte es nie verstanden. Aber Abukow nahm sich vor, seine erste Predigt unter das Motto zu stellen: Sind wir Helden? – Er wußte schon jetzt,
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