Ein Kreuz in Sibirien
daß man von dem neuen Priester sehr überrascht sein würde.
Auf dem Sofa regte sich Novella Dimitrowna. Sie hob den Kopf, hielt das nasse Handtuch auf der Stirn fest und blickte sich um. »Victor …«, rief sie mit schwacher Stimme. »Victor Juwanowitsch, wo sind Sie?«
»Hier, Novelluschka.« Er trat an das Sofa, ging in die Hocke und blickte sie an. Sie lächelte, das Glück strahlte aus ihren Augen. Ihre Hand tastete über sein Gesicht und blieb in seiner Nackenbeuge liegen. Dort streichelten die Fingerspitzen zart seine Haut.
»Sie müssen verzeihen«, sagte sie erschöpft. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
»Ich auch noch nicht.«
»Werden sie alle das überleben?«
»Ich weiß es nicht. Niemand kann das in diesem Augenblick sagen.«
»Ich werde das erzählen. Überall werde ich das erzählen. Überallhin werde ich Briefe schreiben, an jede Zeitung, an alle Verwandten und Bekannten!«
»Und dann wird eines Tages das KGB Sie abholen, ein Gericht wird im Schnellverfahren das Urteil sprechen, wegen Staatsgefährdung und Defaitismus wird man Sie zu zehn Jahren Sibirien verurteilen. Und ganz schnell stehen Sie dann auch in einem Lager in der Sonne, bis Sie umfallen …«
»Soll man über das alles schweigen, Victor? Können Sie das? Sind wir denn Feiglinge?«
»Im Grunde unserer Herzen – ja! Jeder Mensch ist ein Feigling. Nur Ereignisse, denen er nicht mehr auszuweichen vermag, machen einen Menschen zum Helden. Die größten Helden sind die unfreiwillig dazu Getriebenen.« Er legte die Hand über Novellas Augen und dann auf ihre rechte Wange. Ihr Kopf war kühl. Unter seiner Berührung dehnte sie sich, wölbte die Brust, daß die Spitzen durch den dünnen Blusenstoff traten. »Wollen Sie etwas trinken? Marakuja-Limonade, frisch hergestellt?«
»Das wäre gut.«
Sie blickte Abukow nach, wie er ein Glas holte, aus einer Kühlkanne die Limonade eingoß und zu ihr zurückkam. Als er sich über sie beugte, schnellten plötzlich ihre Arme hoch, umschlangen seinen Hals und zogen ihn mit unwiderstehlicher Kraft zu sich herunter. Ihr Körper bäumte sich ihm entgegen, er mußte sich irgendwo abstützen, spürte unter seiner flachen Hand ihre feste Brust und konnte ihr nicht entgehen. Wie in einer Zwinge saß er, im Nacken drückten ihn ihre Arme herunter, von unten stieß ihr Leib nach ihm. Er ließ das Glas mit Limonade fallen, um die andere Hand freizubekommen, aber das nützte ihm nichts mehr – ihre Lippen hatten ihn erreicht und preßten sich auf seinen Mund. Als er den Kopf zurückziehen wollte, schlug sie wild ihre Zähne in seine Unterlippe und biß sich fest. Der Schmerz war wie ein scharfer Schnitt; er spürte warmes Blut, das über sein Kinn in Novellas geöffneten Mund tropfte. Ihre Zunge leckte brennend über die Wunde.
»Verrückt bin ich«, stammelte sie. »Ich weiß es, ich weiß es. O Victor, was ist los mit mir? Ich werde sterben ohne dich, einfach wegsterben, mich auflösen wie ein Tropfen in der Sonne … Victor, o du blutest … Halt den Kopf still, ganz still … ich trinke dein Blut … ich trinke dein Blut.«
Hinter ihnen klappte leise die Tür zu. Mustai hatte das Zimmer verlassen. Du Feigling, dachte Abukow. Schleichst dich davon. Jetzt hättest du mir helfen können. Von seiner aufgebissenen Lippe zuckte der Schmerz bis in den Kopf. Novellas Zunge schnellte über seinen Mund, über das rinnende Blut, über sein Kinn. Völlig von Sinnen war sie, helle Laute stieß sie dabei aus, der kurze Rock war weit hinauf zu ihren Hüften gerutscht, beengte nicht mehr ihre Beine, und so hob sie die schlanken Beinchen hoch und umklammerte Abukow auch damit wie ein vielfüßiger Käfer.
Am Nachmittag flogen Chefingenieur Morosow und Novella Dimitrowna mit dem Hubschrauber zurück zur Baustelle in der Taiga. Morosow war blendender Laune, winkte nach allen Seiten, ehe er einstieg und sich auf seinem Sitz anschnallte. Novella sah noch sehr blaß aus, zog den Kopf etwas ein und kletterte ihrem Chef nach in die Maschine. Erst als sich der Hubschrauber knatternd in die Luft hob, warf sie einen Blick auf das Dach des Magazins. Sie preßte die Hände zusammen, bis die Finger weiß wurden, lehnte den Kopf weit zurück und schloß die Augen.
Abukow saß vor Mustais Waschbecken und kühlte seine aufgebissene Lippe. Eine Gewaltbehandlung mit Wodka hatte er abgelehnt.
»Feigling!« sagte er bitter. »Bist einfach rausgelaufen.«
»Was sollte ich da noch tun, Victor Juwanowitsch?« rief Mustai
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