Ein Kuss und Schluss
den Kiefernwald. Er hielt sie an beiden Armen fest, und seine Entschlossenheit umgab ihn wie eine glühend rote Aura. »Ich schwöre bei Gott, wenn du nicht sofort weitergehst, dann werde ich ...«
»Was wirst du dann tun? Mich über die Schulter werfen und tragen? Es sind ja nur noch zehn oder fünfzehn Kilometer ...«
»Du widersetzt dich der Verhaftung!« Renee zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Im Vergleich zu den anderen Sachen, die mir vorgeworfen werden, ist das ein Klacks.«
Sein Gesicht bebte vor Wut, aber sie hatte einen Ansatzpunkt gefunden und durfte jetzt nicht aufgeben.
»Ich werde nirgendwohin gehen«, sagte sie. »Erst musst du mir zuhören.«
»Gut«, sagte er und ließ sie los. »Rede, so viel du willst. Während wir weitergehen.«
Den Weg zum Gefängnis fortzusetzen war das Letzte, was Renee wollte. Aber wenigstens würde er ihr zuhören, statt ihr zehn Schritte voraus zu sein. Und er hatte nicht gesagt, wie schnell sie gehen sollte, nicht wahr?
»Einverstanden. Aber nur, wenn du mir das Klebeband abnimmst.«
»Kommt nicht in Frage.«
»John ...« Ihre Stimme rutschte ein Stück die Tonleiter hinauf und ermahnte ihn, ihr nicht zu widersprechen.
»Nein«, wiederholte er. »Ich werde auf gar keinen Fall ...«
Sie ließ sich mitten auf die Straße fallen.
»Verdammt noch mal, Renee! Allmählich gehst du mir wirklich auf die Nerven!«
John wollte es eigentlich nicht so weit kommen lassen, dass ihm der Kragen platzte, doch andererseits hatte er noch nie zuvor mit einer so halsstarrigen Frau zu tun gehabt. Warum war sie plötzlich der Meinung, dass sie hier das Sagen hatte?
Sie streckte ihm die Arme entgegen, und ihr Blick sagte, dass sie nur dann weiterkamen, wenn er tat, was sie von ihm verlangte. Er traute ihr immer noch keinen Millimeter über den Weg, aber blieb ihm eine andere Wahl? Er konnte sie durch den Wald tragen und würde vermutlich vor Erschöpfung krepieren. Er konnte ihr noch einmal drohen, aber er hatte nichts, womit er ihr drohen konnte. Wenn er aus diesem blöden Wald und dieser blöden Situation herauskommen wollte, bevor es Weihnachten wurde, musste er Kompromisse eingehen.
Er zischte verärgert, dann klappte er sein Taschenmesser auf und schnitt das Klebeband durch. Dabei kam er sich vor, als hätte er Godzilla befreit, so dass sich das Monstrum nun über Tokio hermachen konnte. Sie hatte sich kaum der Reste des Heftpflasters entledigt, als er sie packte und zum Aufstehen zwang.
»Weitergehen«, sagte er, klappte das Messer zu und steckte es wieder in die Hosentasche. »Und halt nicht mehr an, bevor wir hier raus sind.«
Sie drehte sich um und ging weiter - allerdings mit der Geschwindigkeit einer altersschwachen Schildkröte.
»Etwas mehr Tempo«, sagte er. »Wir machen hier keinen Spaziergang durch den Park.«
Sie wurde etwas schneller, trotzdem wäre das nächste Jahrtausend angebrochen, wenn sie endlich den Highway erreicht hatten.
»Weißt du«, sagte Renee nach einer Weile, »wenn ich der Polizist gewesen wäre, der mich festgenommen hat, hätte ich mich ebenfalls festgenommen, wenn ich die Waffe und das Geld in meinem Wagen gefunden hätte.«
Ihr plötzliches Einlenken ließ seine Alarmsirenen aufheulen. »Ach ja? Für die unglaubliche Intuition, die er brauchte, um dich zu verhaften, hat er einen Orden verdient!«
»Und angeblich war es eine Blondine, die den Überfall begangen hat.«
»Das ist auch mir zu Ohren gekommen.«
»Und ich habe kein Alibi.«
»Aha.«
»Also bin ich eine geradezu vorbildliche Tatverdächtige, nicht wahr?«
»Du sagst es.«
»Aber was ist mit dem Motiv?«
»Was ist damit?«
»Das war das Einzige, wozu niemand etwas sagen konnte. Ich meine, warum in aller Welt sollte jemand wie ich einen Supermarkt überfallen?«
Drogen. Schlechte Gesellschaft. Nötigung durch Freunde. Dringender Geldbedarf. Oder schlicht ein Mangel an schlechtem Gewissen. Verdammt, darauf könnte er hundert Antworten geben. Aber all das spielte letztlich überhaupt keine Rolle.
»Ich will dir etwas verraten, Renee. Wenn du vor einer Leiche stehst und eine rauchende Waffe in der Hand hältst, ist es gar nicht zwingend erforderlich, dir ein Motiv nachzuweisen.«
»Ich weiß, dass es schlecht für mich aussieht . Aber ich hatte keinen Grund, so etwas zu tun. Warum sollte ich einen Supermarkt überfallen?«
»Hast du Schulden?«
»Natürlich. Wer hat die nicht?«
»Viel?«
»Mehr als mir lieb ist, aber ich komme damit zurecht.«
»Hast du
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