Ein Kuss und Schluss
sah abwechselnd Brenda und das Kind an. Sie hatte noch nie so deutlich den Eindruck gehabt, dass sich der Klapperstorch in der Adresse geirrt haben musste.
Nachdem alle einander vorgestellt waren, legte Brenda eine Hand an die Hüfte und musterte Renee. »Du bist also Johns Freundin, wie?«
»Ah ... ja.«
Sie wandte sich an John. »Du machst Fortschritte. Diese gibt es sogar zu.«
John starrte sie mit unbewegter Miene an. »In der Küche ist Bier, Brenda. Aber leider kein Flaschenöffner. Beiß den Kronkorken einfach mit den Zähnen ab.«
Brendas Mund verzog sich fast zu einem Lächeln. »Soll das eine Herausforderung sein?«
Brenda ging in die Küche und nahm das engelhafte Kind mit. Eddie folgte ihnen. Renee drehte sich zu John um, weil sie interessiert war, wie er auf Brendas schlagfertige Erwiderung reagierte. Aber er blickte schon wieder zur Haustür, wo sich Großmutter auf wackligen Beinen näherte, mit einem Kuchenteller in der Hand. John trat auf die Veranda, nahm ihr den Kuchen ab und bot seine freie Hand an, um ihr die Stufen hinaufzuhelfen.
Mit den rosigen Wangen, der Brille und dem zarten Blümchenkleid entsprach sie ganz dem Klischee einer Fernsehgroßmutter der fünfziger Jahre. Renee verspürte große Erleichterung. Wahrscheinlich konnte sie sich in aller Ruhe Geschichten über den großen Börsenkrach und Klagen, dass es heute keine Präsidenten wie Herbert Hoover mehr gab, anhören - und auf diese Weise vermeiden, sich mit dem Rest der Familie unterhalten zu müssen.
Doch als Großmutter Renee sah, blieb sie wie angewurzelt stehen, und ihre freundliche Miene wich einem misstrauischen Stirnrunzeln.
»Ich kenne Sie nicht.«
»Nein, Großmutter, du kennst sie noch nicht«, sagte John. »Das ist Alice.«
»Alice? Ich hatte einmal eine Katze, die Alice hieß. Sie bekam eine Hautkrankheit, und ihr fielen sämtliche Haare aus.«
»Das ist ja furchtbar!«, sagte Renee.
»Nein. Danach hat sie keine Haarknäuel mehr ausgewürgt.«
Großmutter nahm John den Kuchenteller wieder ab und wackelte weiter durch das Wohnzimmer zur Küche. So viel zur Idee, sich durch die Lebenserinnerungen einer liebenswürdigen alten Dame vor anderen Gesprächen abschirmen zu lassen.
»Ich glaube, damit ist die heutige Besetzung komplett«, flüsterte John ihr zu. »Großvater und Alex sind zum Angeln gefahren. Wir haben richtig Glück gehabt.« Mit anderen Worten, er war erleichtert, dass die erste Runde vorbei war und sie immer noch auf den Beinen standen.
Unter Johns wachsamen Augen schlich sich Renee in den Waschraum und schaffte es schließlich, den Reißverschluss ihrer Jeans zuzuziehen, während sie unablässig auf John schimpfte. Jetzt wusste sie, wie es gewesen sein musste, ein Korsett zu tragen. Die Hose war so eng, dass ihr Unterleib gefühllos wurde. Wenn sie sich setzte, würde sie zu Levi Strauss beten müssen, dass keine Naht platzte.
Die Familie hatte sich in der Küche versammelt, unter dem Vorsitz von Tante Louisa, einer Frau, die so groß und aufrecht wie das Washington Monument war. Sie trug Hosen und eine hochgeschlossene Bluse mit einer Kamee am Kragen, und ihr grau meliertes Haar klammerte sich verzweifelt in einer starken Dauerwelle an ihren Kopf. Sie erteilte allen Anwesenden Befehle, die durch ihren freundlichen Tonfall abgemildert wurden, doch keiner wagte es, sich ihren Anweisungen, dies umzurühren oder jenes warm zu machen, zu widersetzen. Nur Renee musste nichts tun, sondern erhielt den Befehl, sich an den Tisch im Frühstückszimmer zu setzen und hübsch auszusehen, weil sie Gast war. Aber beim nächsten Mal, sagte Tante Louisa, würde sie genauso wie alle anderen mit anpacken müssen.
Renee stellte schnell fest, dass es im Kreis dieser Familie genauso lebhaft wie auf dem Rollfeld des Flughafens von Dallas und Fort Worth zuging. Es herrschte eine unglaubliche Hektik, und der Geräuschpegel entsprach ungefähr dem eines startenden Jumbo-Jets. Es fiel ihr schwer, sich all diese Leute als Polizisten und sonstige Gesetzeshüter vorzustellen. Es schienen ganz normale Leute zu sein. Nette Leute. Aber jedes Mal, wenn sie sich ein wenig entspannte und ihren Gesprächen lauschte, warf John ihr einen seiner warnenden Polizistenblicke zu und erinnerte sie an den wahren Grund ihres Hierseins.
Wenige Minuten später zogen sie ins Esszimmer um. John war ihr auf geradezu charmante Weise beim Platznehmen behilflich, obwohl Renee wusste, dass es kaum etwas mit Höflichkeit zu tun hatte. Er sorgte
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