Ein Kuss und Schluss
Rechtsstaat auszustatten.
Tante Louisa war in der Küche, wo sie sich den letzten Essensvorbereitungen widmete, und Sandy deckte den Tisch, als Johns Bruder Dave eintraf. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war verblüffend. Sie waren groß und auf herbe Weise attraktiv, und sie hatten die gleichen dunklen, wachsamen Augen. Aber Dave hatte nichts von der Energie, die John mit jedem Atemzug verströmte. Er vermittelte den Eindruck gleichmütiger Gelassenheit. Seine legere Art schien zu sagen, dass das Leben die Aufregung nicht lohnte. Allerdings musste sich Renee eingestehen, dass das Kleinkind, das er im Arm trug, die Windeltasche, die er sich über die Schulter gehängt hatte, und das T-Shirt mit der Aufschrift Achtung, Polizist! Bitte nicht füttern! zu diesem Eindruck beitrugen. Trotzdem konnte sie nicht vergessen, dass er Polizist war, mochte er noch so freundlich wirken.
»Freut mich, dich kennen zu lernen, Alice«, sagte Dave, nachdem John sie vorgestellt hatte. Dann zeigte er ihr das Kind. »Und das ist Ashley.«
Als die Kleine ihren Namen hörte, drehte sie sich in seinem Arm herum und verzog das Gesicht zu einem strahlenden Lächeln. Sie war etwa anderthalb Jahre alt, hatte zerzaustes schwarzes Haar und die größten braunen Augen, die Renee jemals gesehen hatte.
»Hallo, Ashley«, sagte Renee und kitzelte das Mädchen am Arm. Das Baby kicherte verhalten. Dave grinste Ashley an, dann drückte er ihr einen dicken, schmatzenden Kuss auf die Wange, worauf sie noch mehr kicherte.
Am Strahlen in Daves Augen erkannte Renee, dass seine Tochter für immer im Mittelpunkt seines Lebens stehen würde. Und sie spürte tief drinnen eine seltsame Regung, von der sie gedacht hatte, dass sie sie schon vor langer Zeit erfolgreich verdrängt hatte - der unerträgliche Schmerz der Einsamkeit und Nutzlosigkeit, der ihre gesamte Kindheit überschattet hatte. Sie war mit dem Gefühl aufgewachsen, dass es auf der ganzen Welt niemanden gab, den es wirklich interessierte, wie es ihr erging - nicht einmal ihre Mutter. Es war lange her, seit sie das letzte Mal darüber nachgedacht hatte, weil sie dem Weg, der sie von den Schrecken der Jugend zu einer reifen, verantwortungsbewussten Frau geführt hatte, niemals hätte folgen können, wenn sie ihr Leben von der Tatsache hätte bestimmen lassen, dass ihre Geburt ein Unfall gewesen war. Doch als sie nun Dave und Ashley sah, wurde sie sich schmerzhaft der Ungerechtigkeit des Lebens bewusst, als wäre alles erst gestern geschehen.
»Komm, Ashley«, sagte Dave lächelnd zu seiner Tochter. »Wir wollen mal schauen, was Tante Louisa zusammengebrutzelt hat.«
Sie verschwanden in der Küche, als gleichzeitig zwei weitere Besucher durch die Haustür eintraten. Es waren Brenda und Eddie.
Eddie war ein blonder, intellektueller Typ, der zwischen den verstaubten Regalen einer Bibliothek des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt nicht aufgefallen wäre. Der Kriminologe. Er entsprach hundertprozentig dem Klischee. Aber wie gut war er in seinem Job? Konnte sein scharfer, durchdringender Blick sie wie ein Lügendetektor entlarven? Einen kurzen Moment lang befürchtete sie, dass er den Schmortopf, den er in den Händen hielt, fallen lassen, anklagend mit dem Finger auf sie zeigen und erklären würde, dass sie sich der Justiz durch Flucht entzogen hatte. Doch er lächelte nur und stellte seine Frau Brenda vor. Auch in ihrem Fall hatte die Besetzungsagentur des Lebens den Nagel voll auf den Kopf getroffen.
Brenda, die treffsichere Scharfschützin, war klein und stämmig gebaut, etwa dreißig Jahre alt und verströmte aus jeder Pore ihres Körpers den Geruch der Dominanz. Ihr schwarzes Haar war kurz geschoren, ihre Lippen, die nie zu lächeln schienen, waren dünn und farblos, und als sie mit schneller und sicherer Handbewegung die Sonnenbrille abnahm, schien Renee von ihren leicht zusammengekniffenen Augen wie von zwei Bajonetten durchbohrt zu werden. Sie sah aus, als würde sie sich lieber bei einer Militärübung irgendwo im Mittleren Osten in die Schlange vor der Gulaschkanone einreihen als Tante Louisas Schmorbraten zu essen. Zum Glück schien sie nicht bewaffnet zu sein und auf Renees Anwesenheit mit genauso wenig Misstrauen zu reagieren wie ihr Ehemann.
Dann stellte Eddie ihre Tochter Melanie vor, die Brendas Hand hielt und schüchtern blinzelnd zu Renee aufsah. Das Mädchen war etwa fünf Jahre alt, hatte meergrüne Augen und feines blondes Haar. Es wirkte so zart wie eine Pusteblume. Renee
Weitere Kostenlose Bücher