Ein Kuss und Schluss
lediglich dafür, dass sie neben ihm saß, wo er sie besser im Auge behalten konnte.
»So, Alice«, sagte Tante Louisa und reichte das Kartoffelpüree herum. »Jetzt erzähl uns mal, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst.«
Sie hatte Sandy bereits die Wahrheit gesagt - beziehungsweise das, was die Wahrheit gewesen war, bevor man sie für einen bewaffneten Raubüberfall verantwortlich gemacht hatte. Also musste sie sich weiterhin an diese Fakten halten. »Ich bin Oberkellnerin eines Restaurants.«
»Oh! Wie interessant! In welchem Restaurant?«
»Im Renaissance.«
Alle starrten sie verständnislos an.
»Es liegt drüben in Rosewood Village.«
»Ach sooo!«, sagte Sandy. »Das kleine italienische Restaurant! Ich habe gehört, dass es wirklich nett sein soll. Und recht teuer. Als es in der Zeitung besprochen wurde, hat es vier kleine Dollarzeichen bekommen.«
»Mensch, John!«, sagte Brenda. »Da hast du ja einen richtig guten Griff gemacht. Jetzt kannst du Alice ganz fein zum Essen ausführen und bekommst gleichzeitig den Angestelltenrabatt. Das ist ja fast wie ein Gutschein.«
»Junge, daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, sagte John. »Würdest du gerne mitkommen? Nein, ich fürchte, der Laden ist nichts für dich, Brenda. Dort ist es nicht üblich, dass die Gäste ihr Abendessen selber schießen.«
Brenda wandte sich an Sandy. »Hast du nicht gesagt, es sei ein Restaurant der gehobenen Klasse?«
»Ich habe gehört, dass in Restaurants alles wiederverwertet wird«, murmelte Großmutter. »Was man nicht isst, wird in die Küche zurückgebracht und kommt in den Eintopf.«
»Mutter!«, rief Tante Louisa. »Natürlich gibt es so etwas nicht! Stimmt‘s, Alice?«
Nun, an einem früheren Arbeitsplatz hatte sie einmal gesehen, wie einem Kellner in der Küche ein Steak herunterfiel, worauf er es vom Boden aufhob, an seiner Hose abwischte und es ohne Umschweife wieder auf den Teller legte. Aber sie glaubte nicht, dass Großmutter diese Geschichte hören wollte.
»Ja«, sagte Renee. »Natürlich gibt es das nicht.«
»Und wenn man die Kellner verärgert«, sagte Großmutter, »spucken sie einem in die Suppe.«
»Mutter! Bitte! Wir sind beim Essen!«
Großmutter zuckte gleichgültig mit den Schultern, dann stocherte sie in ihrem Kartoffelpüree herum, als suchte sie darin nach Rattenkot.
»Erzählt doch mal, wie ihr euch kennen gelernt habt«, sagte Tante Louisa.
Renee sah John an. Er räusperte sich. »Wir sind uns in einem Diner begegnet. Sie kam zu mir und ... stellte sich einfach vor.«
»Das gefällt mir«, sagte Brenda und spießte ein Stück Schmorbraten mit der Gabel auf. »Eine Frau, die den Männern zeigt, wo der Hammer hängt!«
Tante Louisa tätschelte Renees Hand. »Sie meint es als Kompliment, meine Liebe.«
»Dann hat er Glück gehabt, dass Alice den ersten Schritt gemacht hat«, sagte Sandy, »weil sie höchstwahrscheinlich alt und runzlig geworden wäre, wenn sie darauf gewartet hätte, dass er sie anspricht.«
Alle, die am Tisch saßen, nickten einstimmig, als wäre dieser Punkt eine allgemein bekannte Tatsache und als wäre John gar nicht anwesend. Und John schien sich alle Mühe zu geben, diese Diskussion zu ignorieren.
Tante Louisa wandte sich an Brenda. »Und wie kommt Melanie im neuen Schuljahr zurecht?«
»Natürlich bestens«, sagte Brenda.
»Und ihre Ballettstunden?«
»Du meinst ihren Taekwondo-Kurs«, murmelte Eddie.
Tante Louisa hob die Augenbrauen. »Taekwon ... do?«
»Das ist so was wie Kungfu«, sagte Großmutter.
»Wir haben entschieden, dass sie lieber Kampfsport treiben sollte«, erklärte Brenda. »Mädchen müssen frühzeitig lernen, sich zu verteidigen.«
»Wir haben entschieden?«, fragte Eddie nach.
Brenda verdrehte die Augen. »Zu lernen, auf Zehenspitzen zu tanzen, ist wohl kaum eine bedeutende Lebensaufgabe.«
»Du könntest von Zeit zu Zeit auch einmal zu einem Kompromiss bereit sein, weißt du ...«
»He! Ich habe erst vor kurzem einen Kompromiss geschlossen und ihr eine Barbie-Puppe gekauft!«
»Ja - eine Barbie in Soldatenuniform!«
»Ich habe doch gesagt, dass es ein Kompromiss war.«
»Vielleicht solltest du gelegentlich Mutter und Kind mit ihr spielen - statt Geisel und Einsatzleiter.«
»Und vielleicht über ein Kätzchen anstatt eines Rottweilers als Haustier nachdenken«, fügte Sandy hinzu.
»Und sie in den Zoo statt auf den Schießplatz mitnehmen«, lautete Tante Louisas Vorschlag.
Großmutter schnaufte. »Wenn ihr so
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