Ein Kuss unter dem Mistelzweig
Weihnachten schon wieder ganz allein sein wirst?«, fragte Clara und sah Laurie in die Augen, bevor sie den Kopf schüttelte, um ihre Verzweiflung zu zeigen. »Kein Freund in Sicht? Wie bei Andrea?«
»Mum!«, rief Andrea entrüstet und mit weit aufgerissenen Augen, bevor sie sich mit einer entschuldigenden Miene wieder zu ihrer Cousine umdrehte. Lauries Schweigen reichte ihr wohl als Antwort.
»Ich rate dir eines: Du musst an dein Leben außerhalb der Arbeit denken, weißt du? Du und deine Cousine … Ganz ehrlich: Ich mache mir manchmal wirklich Sorgen um Andrea … Immerhin seid ihr beide über dreißig«, fuhr Clara fort. »Deine Mum und ich, wir beide hatten schon Babys, als wir in eurem Alter waren. Ihr habt nicht ewig Zeit, wisst ihr …?«
Andrea schaute Laurie an und verdrehte die Augen, was Laurie zu einem ironischen Grinsen veranlasste.
Clara ignorierte die Reaktion ihrer Tochter und drehte sich zum Wohnzimmertisch um. »Jetzt aber mal zu deiner Mutter. Hast du mit ihr gesprochen? Du solltest sie wirklich mal anrufen. Sie vermisst dich. Und sie versteht nicht, warum du darauf bestehst, Weihnachten allein zu verbringen.«
Laurie trank einen Schluck Tee und versuchte, sich daran zu erinnern, warum genau sie es noch einmal für eine gute Idee gehalten hatte, zu ihrer Tante zu kommen.
»Warum rufst du sie nicht gleich jetzt an, Liebes?«, schlug Clara vor und deutete auf die Küche, wo das Telefon auf einem Beistelltisch stand. »Wir haben eine günstige Vorwahl nach Spanien gefunden, die Gespräche sind quasi umsonst. Du solltest sie wirklich anrufen.«
Laurie nickte und stand auf. Alles war besser, als sich von Clara unablässig ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen.
»Oooh, Laurie – du hast ja auch ein bisschen zugelegt!«, stellte Clara fest und klopfte Laurie auf den Po, als diese an ihr vorbeiging. »Der ist ja ganz schön dick geworden.«
»Ja, wahrscheinlich«, erwiderte Laurie mit einem Schulterzucken. »Aber eigentlich finde ich, es steht mir ganz gut.«
Sie konnte hören, wie Clara im Wohnzimmer ihrer Tochter ihre Zustimmung zuflüsterte. Und selbst im Flüsterton war sie kaum zu überhören.
Laurie holte tief Luft, nahm den Hörer in die Hand und wählte die Nummer ihrer Mutter.
»Mum«, sagte sie, als ihre Mutter sich meldete, und begrüßte sie auf Spanisch. Sie konnte sich genau vorstellen, wie ihre Mutter auf dem Balkon ihrer Villa saß und den Ausblick auf den Pool genoss. »Ich bin’s.«
»Süße!«, rief ihre Mutter begeistert. »Das ist ja eine nette Überraschung! Wie geht es dir?«
Sie musste an die vielen SMS und Anrufe ihrer Mutter denken, die viel zu lange unbeantwortet geblieben waren. Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie zugelassen hatte, dass in ihrem Leben alles andere wichtiger geworden war als ihre eigene Familie.
»Mir geht’s gut«, erwiderte Laurie. Aber es war nie zu spät, oder? Ihr kam eine Idee, und sie entschied spontan, sofort damit herauszurücken. »Hör mal, ich habe nachgedacht. Hast du schon Pläne für Silvester? Wenn nicht, dann würde ich gern mit dir zusammen ins neue Jahr hineinfeiern!«
Laurie und ihre Mutter unterhielten sich etwa zwanzig Minuten lang miteinander, während Clara und Andrea das Abendessen vorbereiteten. Laurie erzählte ihr von Skipley, der Wohltätigkeitsauktion und den neuen Rezepten, die sie ausprobiert hatte. Patrick erwähnte sie lieber nicht, genauso, wie auch ihre Mutter nichts über ihr eigenes Liebesleben verriet. Doch Laurie spürte eine neue Bindung zwischen ihnen, ein neues Verständnis füreinander. Bei ihrer Mutter war stets Highlife angesagt … na ja, im Augenblick klang es vielleicht weniger nach high, mehr nach life, wie es schien. Laurie stellte sich ihre Mum vor, mittlerweile graue Strähnen im braunen Haar, die zierliche Figur mit jedem Jahr ein wenig fülliger geworden. Ja, sie hatte ihre Schwierigkeiten gehabt, aber sie hatte immer alles versucht, eine gute Mutter zu sein. Laurie musste an die schmerzliche Wahrheit zurückdenken, die sie kannte, jedoch nie ihrer Mutter berichtet hatte: das Haus im Westen Londons, wo ihr Dad seine neue Familie gegründet hatte.
»Du fliegst nach Spanien!«, rief Tante Clara und war mehr als erfreut über diese Neuigkeiten. »Unternimm nichts, bevor ich nicht mit Liliana von der Fluggesellschaft gesprochen habe. Du weißt ja, welche sensationellen Preise sie bekommt. Das Internet kann schon vieles«, stellte Clara fest. »Aber nichts und niemand kann meine
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