Ein Kuss unter dem Mistelzweig
vorzustellen, dass Laurie in Aiden verliebt war. Selbst wenn das schon zwanzig Jahre her war. Allerdings war das nicht die Geschichte, die sie erwartet hatte. Sie wartete immer noch auf den Laurie-und-Aiden-sind-zusammen-Teil.
»Ihr habt also nie …?«, zwang sich Rachel zu sagen. »Du weißt schon …«
»Was denn?«, hakte Laurie nach.
»Ihr habt euch also nie … du weißt schon, euch geküsst …« Rachels Gedanken rasten. »Da ist nichts passiert?«
Sofort schüttelte Laurie den Kopf. »Oh Gott, Rachel, nein! Niemals!« Sie lachte und winkte ab. »Ich hätte doch im Leben keine Chance bei ihm gehabt! Du weißt doch, wie ich in der Schule war …« Sie verzog das Gesicht zu einer linkischen, streberhaften Miene, die Zähne vorstehend, die Augen schielten, sodass Rachel gegen ihren Willen lachen musste. »Ich war verzweifelt darauf aus akzeptiert und gemocht zu werden. Klar, Aiden war nett zu mir. Ich habe eine Weile lang jeden seiner Schritte verfolgt, habe ihm diese kleinen Zettel geschrieben, wie sehr ich ihn liebte, manchmal habe ich sogar so getan, als würden wir tatsächlich miteinander ausgehen, doch dann habe ich die Briefe versteckt. Ich hatte nie den Mut, es ihm zu sagen. Der Brief, den du gefunden hast, muss einer davon gewesen sein. Irgendwann hat Brandon – du erinnerst dich doch noch an Brandon, oder?« Rachel konnte sich noch sehr gut an Aidens eingebildeten, leicht reizbaren Schulfreund erinnern. Sie musste zugeben, dass sie wahrlich keine Träne vergossen hatte, als sie ihn in Bromley zurückgelassen hatten.
»Ein richtiger Charmebolzen«, stellte Laurie sarkastisch fest. »Er hat die Briefchen in meinem Schreibtisch gefunden und mir auf den Kopf zu gesagt, was ich mir denn einbilden würde und wie erbärmlich das doch sei. Ha! Und dass Aiden in dich verliebt sei. Das tat weh, aber er hatte natürlich recht – denn ein paar Wochen später ist Aiden das erste Mal mit dir ausgegangen.«
Rachel musste Lauries Worte erst einmal sacken lassen. Alles, was ihr gestern Nacht und auf dem Weg hierher durch den Kopf gegangen war – nichts davon war real. Ihre Ehe war immer noch intakt. Ihre älteste Freundin hatte sie nicht verraten und getäuscht, zumindest nicht so, dass es irgendeine Rolle gespielt hätte. Die harte, klumpige Anspannung in Rachels Bauch ließ ganz, ganz langsam nach.
»Ihr beide seid füreinander geschaffen, Rachel.« Laurie lächelte. »Aiden hat dich damals schon abgöttisch geliebt, und ich bin sicher, dass er es immer noch tut. Du bist diejenige, die er schon immer geliebt hat. Das war mir von dem Moment an klar, als ihr zusammengekommen seid. Aiden hatte seine Wahl getroffen; das tat weh, aber ich habe es verstanden. Ein paar Wochen später – okay, ich will ehrlich sein; ein paar Monate später …«, Laurie lachte schief, »… habe ich aufgehört, mich weiter in die Sache mit Aiden reinzusteigern. Ich war über ihn hinweg und habe weitergemacht.« Der Schatten eines Lächelns huschte über ihre Lippen. »Und weitergemacht … und weitergemacht.« Rachel erwiderte ihr Lächeln. In der Oberstufe war Laurie körperlich aufgeblüht und hatte sich nicht gerade dabei zurückgehalten, die Aufmerksamkeit der Jungs zu genießen; sie hatte die Reihe der am besten aussehenden Jungs in ihrer Stufe abgearbeitet. »Trotzdem habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als du zu sein.«
Ungläubig starrte Rachel ihre Freundin an. »Ehrlich?«, fragte sie. Rachel war nie etwas Besonderes gewesen – sie war nicht aufs College gegangen, hatte keine Karriere gemacht. Anders als Laurie, die unabhängige, draufgängerische, glanzvolle Laurie. Rachel hielt kurz inne. Rachel mochte vielleicht nicht Laurie sein, aber im vergangenen Monat hatte sie doch einiges geschafft, oder? Sie dachte an Lilys Wohnung, die Renovierung, die sie mit unterstützt hatte – sie hatte jede Minute davon genossen, und das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Vielleicht könnte sie trotz allem doch etwas allein auf die Beine stellen. Diana hatte immer an ihre Fähigkeiten geglaubt. Bis jetzt hatte Rachel selbst jedoch noch nicht daran glauben können. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie nicht das weniger erfolgreiche Gegenstück zu Laurie war, sondern eine starke, fähige Frau, die bereit war, ins Berufsleben einzusteigen.
»Verzeihst du mir?«, fragte Laurie hoffnungsvoll.
Rachel griff quer über den Tisch und nahm Lauries Hand. »Wenn du mir verzeihst, dass ich an dir gezweifelt
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