Ein Kuss unter dem Mistelzweig
die Hüften bekommst«, grinste Siobhan. »Aber jetzt mal im Ernst, Laurie – du allein in den Dales? Du weißt schon, worauf du dich da einlässt?«
»Mir wird es dort gut gehen«, beharrte Laurie und winkte ab. »Danny und du, ihr habt wirklich recht. Ich muss mal einen klaren Kopf bekommen.«
Am Sonntagmorgen, drei Tage, bevor sie abreisen sollte, klopfte Laurie an die blaue Tür im Erdgeschoss ihres Wohnhauses. Nach einem kurzen Moment wurde die Tür von einer kurvenreichen Frau in den Siebzigern mit einer Frisur im Afro-Look aufgemacht. Sie trug ein gelb-rot gemustertes Kleid, zu dem sie schlichte goldene Kreolen und eine rote Halskette trug.
»Hi Lily!«, begrüßte Laurie sie.
»Na, wenn das mal nicht meine Lieblingsnachbarin ist«, erwiderte Lily mit einem breiten Lächeln. »Komm rein, meine Liebe. Ich habe gerade Teewasser aufgestellt.«
»Wie geht es dir?«, fragte Laurie und ging zur Küche durch, wo sie einen Holzstuhl unter dem Küchentisch hervorzog.
»Ganz gut, danke, Süße.« Lily nahm sich ein Tablett und setzte zwei Tassen aus dem Küchenschrank darauf. »Einmal vom Chor abgesehen, ist bei mir alles ruhig. Im November ist nie viel los. Erst an Weihnachten wird es so richtig lustig.«
Aus dem Radio ertönte leise Skamusik, und Laurie entging nicht, dass auf dem Herd der Inhalt eines Kochtopfs vor sich hin blubberte. Als sie sich in der Küche weiter umschaute, sah sie, dass sich ein Großteil der Sonnenblumentapete an der Wand neben der Küchentür ablöste. Zudem waren ein paar Holzregale und eine größere Anzahl der Linoleumplatten kaputt. »Ist das alles durch die Elektroarbeiten passiert?«, fragte Laurie und deutete auf die Wand und die Möbel.
»Ja«, nickte Lily, trug das Teetablett zum Tisch und setzte es zwischen ihnen ab. »Ich bin natürlich dankbar, dass sie alles repariert haben, aber die Arbeiter haben ein schreckliches Chaos hinterlassen.«
Laurie strich über die zerrissene Tapete. »Es ist wirklich eine Schande«, schüttelte sie den Kopf. »Du hast es hier immer so sauber und ordentlich.«
»Oh, das ist noch gar nichts«, lachte Lily. »Du solltest mal das Wohnzimmer sehen, da ist von der Tapete kaum noch etwas übrig. Die Elektriker haben zwar gesagt, dass sie zum Tapezieren wiederkommen, aber das war vor Wochen.«
»Aber die Elektrik funktioniert wieder reibungslos?«
»Oh ja, die Lampen und Steckdosen funktionieren alle, das ist die Hauptsache. Im Dunkeln kann man schließlich schlecht feiern, nicht wahr?«
Laurie grinste. Jedes Jahr veranstaltete Lily ihre karibische Weihnachtsfeier für alle Bewohner des Blocks. Niemand wurde abgewiesen, sodass ihre Wohnung vor Freunden und Nachbarn stets aus allen Nähten zu platzen drohte. In der Luft lag dann immer der verlockende Duft von Jerk Chicken und Kochbananen, Rum feuerte die Tänze an, und die Zimmer waren alle rot und goldfarben geschmückt. Siobhan und Laurie waren regelmäßige Gäste, genauso wie Sean, der alleinerziehende Vater aus der Souterrainwohnung, Nikki, seine Tochter im Teenageralter, die für seine grauen Haare verantwortlich war, und – natürlich – Jay.
Normalerweise gesellten sich zwischen Mittag und Mitternacht auch Freunde aus Lilys Gospelchor zu ihnen sowie ein paar Kinder aus den benachbarten Wohnblocks. Im letzten Jahr hatte Siobhan eine Piñata in Rentierform gekauft, die bei den Kids super angekommen war – sie hatten die Piñata so lange mit Stöcken bearbeitet, bis sich die Süßigkeiten und die Schokolade darin über den ganzen Boden verteilt hatten.
Das Weihnachtsessen bei Lily war für Laurie eines der Highlights in ihrem ganzen Jahr, doch dieses Mal fühlte es sich anders an. Ob Jays Freundin wohl auch kommen würde? Wollte Laurie wirklich Weihnachten damit verbringen, über den Obstkuchen hinweg die beiden anzustarren, wie sie sich verliebt Dinge zuflüsterten? Allein schon der Gedanke daran tat weh.
»Deine Party wird toll«, stellte Laurie fest. »Wie immer.«
Lily schenkte ihnen beiden Tee ein. »Jaja, ich weiß. Es sind die Menschen, auf die es ankommt. Aber du weißt ja, wie gern ich es habe, wenn alles hübsch aussieht.«
Laurie nickte mitfühlend, bevor ihr wieder einfiel, warum sie hergekommen war. »Jedenfalls bin ich hier, weil ich dir sagen wollte, dass ich eine Weile verreisen werde. Ich wohne dann im Haus einer Freundin, die für die Zeit hier bei mir leben wird. Ihr Name ist Rachel, und sie wird mit ihrer Familie – sie hat zwei Kinder, einen kleinen
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