Ein Kuss vor Mitternacht
Duchess im Kampf gegen die Müdigkeit bereits kapituliert hatte. Sie thronte mit geneigtem Kopf und geschlossenen Augen auf ihrem Sessel. Die zwei violett eingefärbten Straußenfedern in der aufgetürmten Frisur der Dowager Duchess wippten mit jedem tiefen Atemzug ein wenig auf und nieder. Gelegentlich riss die alte Dame den Kopf hoch, warf strenge Blicke in die Runde, bevor ihr die Lider wieder schwer wurden und sie erneut einschlummerte.
Neben Constance seufzte Francesca leise, hob den Fächer und murmelte: „Mutter zieht sich für gewöhnlich zeitig zurück. Ich vermute, sie will die Gäste bald loswerden, deshalb hat sie Muriel gebeten zu spielen.“
Ein Lächeln umspielte Constances Lippen, sie senkte den Kopf, um es zu verbergen, und flüsterte: „Sie sind boshaft.“
„Aber ehrlich. Ich würde viel darum geben, ein Mann zu sein, um diesem Kunstgenuss entfliehen zu können.“
„Bleiben die Herren so lange im Rauchsalon, bis der musikalische Vortrag vorüber ist?“, fragte Constance erstaunt.
„Wenn Muriel spielt, ja“, entgegnete Francesca. „Und da Mutter sie immer darum bittet …“ Sie musste niesen und hielt sich ein Spitzentüchlein unter die Nase. Sie nieste noch zweimal und schnäuzte sich die Nase. „Verflixt! Schon wieder. Hoffentlich habe ich mich nicht erkältet.“
Lady Rutherford, die in der Reihe vor ihnen in der Nähe des Pianos saß, drehte sich stirnrunzelnd um, um zu sehen, wer es wagte, Muriels Vortrag zu stören. Francesca lächelte schuldbewusst. Kurz darauf straffte sie die Schultern, hob den Fächer wieder und neigte sich Constance zu. „Folgen Sie meinem Beispiel!“, raunte sie verschwörerisch.
Constance nickte verwirrt. Francesca lehnte sich zurück, wedelte mit dem Fächer und machte ein verdächtig unschuldiges Gesicht. Und dann begann sie zu hüsteln, musste wieder niesen, kurz darauf folgte ein krampfartiger Hustenanfall, den sie mühsam mit vorgehaltenem Taschentuch zu unterdrücken versuchte. Die Darbietung war so realistisch, dass Constance sich besorgt zu ihr beugte. „Kann ich Ihnen helfen?“, flüsterte sie.
Francesca schüttelte nur den Kopf und begann, sich zu erheben. Constance half ihr und nahm sie beim Arm. Entschuldigungen murmelnd, führte sie die Freundin, die immer noch ihren Hustenanfall bekämpfte, aus dem Musikzimmer.
Draußen hustete Francesca noch einige Male, um die Wirkung zu unterstreichen, während sie den Flur zur Treppe entlangeilte und Constance ein verschwörerisches Lächeln zuwarf, die sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen konnte.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Constance war ernst geworden und musterte ihre Freundin prüfend.
Francesca schmunzelte schelmisch und nieste erneut in ihr Taschentuch. „Ich weiß nicht recht“, antwortete sie ehrlich. „Der Hustenanfall war vorgetäuscht. Aber dieses Niesen …“ Sie räusperte sich, betupfte die Augen und seufzte. „Du meine Güte, hoffentlich kann ich an dem Ausflug morgen teilnehmen.“
„Was für ein Ausflug?“, fragte Constance, während die beiden die Treppe hinaufstiegen.
„Nichts Weltbewegendes, nur eine Besichtigung unserer Dorfkirche.“ Francesca putzte sich die Nase. „Der Pfarrer hält einen Vortrag über ihre Entstehungsgeschichte. Der Kirchturm stammt aus normannischer Zeit, und es gibt noch weitere Sehenswürdigkeiten zu bewundern. Eigentlich sterbenslangweilig, aber wenigstens eine Abwechslung. Außerdem bleiben die Duchess, meine Mutter und Lady Rutherford zu Hause, was die Sache etwas reizvoller macht.“
Constance lachte leise, und Francesca fügte hinzu: „Allerdings sagte Ihre Tante meiner Mutter, sie würde sich glücklich schätzen, die jungen Leute als Aufsichtsperson zu begleiten, und Mama erteilte begeistert ihre Zustimmung. Dennoch sollte sich für Sie reichlich Gelegenheit bieten, mit den Herren zu plaudern und vielleicht ein wenig zu flirten.“
Sie warf Constance einen hoffnungsvollen Seitenblick zu.
„Dagegen habe ich nichts einzuwenden“, antwortete Constance.
„Beim Dinner war Mr. Willoughby Ihr Tischherr“, fuhr Francesca fort. „Wie gefällt er Ihnen?“
„Er ist sehr nett“, antwortete Constance ausweichend.
„Aber …?“, hakte Francesca nach.
„Hoffentlich halten Sie mich nicht für undankbar, Francesca, aber ich muss Ihnen gestehen, dass ich nicht glaube, dass er … ähm, dass ich … Es klingt gewiss anmaßend von mir, so zu sprechen, da Mr. Willoughby und ich uns kaum kennen, und ich bezweifle, dass er je
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