Ein Kuss vor Mitternacht
geschlossenen Tür. Es war kaum schicklich, sich zu dieser späten Stunde allein mit einem Mann bei geschlossener Tür in einem Raum zu befinden, selbst dann nicht, wenn dieser Raum eine Bibliothek war.
Er machte einen Schritt auf sie zu und sagte scherzhaft: „Fürchten Sie, allein mit mir zu sein? Ich verspreche, Ihnen nicht zu nahe zu treten und Sie nicht zu kompromittieren.“
Constances Puls schlug schneller bei dem Gedanken daran, was beim letzten Mal geschehen war, als sie mit Lord Leighton allein gewesen war. Sie schaute ihn an, bemerkte das Funkeln in seinen Augen, und ihr war klar, dass auch er an jenen Kuss dachte.
Er hob die Hand und strich mit einem Finger zart über ihre Wange. „Ich weiß. Ich konnte Ihnen beim letzten Mal nicht widerstehen, wieso sollten Sie mir jetzt vertrauen? Das ist es doch, was in Ihnen vorgeht, nicht wahr?“
„Eine berechtigte Frage“, entgegnete sie ein wenig atemlos. Ihre Haut prickelte warm, wo er sie berührt hatte, und ihr Herz hämmerte so laut, dass sie befürchtete, er würde es hören können.
„Damals war es ein Spaß“, antwortete er weich. „Ich kannte Sie nicht und dachte, ich sehe Sie nie wieder. Es war lediglich … eine Torheit, ein Jux.“
„Und diesmal?“ Constance war seltsam kühn und zugleich beklommen zumute.
„Diesmal ist es anders, nicht wahr?“ Er strich ihr ein Löckchen hinters Ohr und betrachtete ihr Gesicht. Seine Augen leuchteten tiefblau, sein samtener Blick fühlte sich an wie eine körperliche Berührung.
Obgleich er sie nicht mehr anfasste, begann ihre Haut zu prickeln, und in ihrem Leib flammte ein wildes Feuer auf. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer.
„Weil ich eine Freundin Ihrer Schwester bin, meinen Sie?“ Sie bemühte sich angestrengt, mit fester Stimme zu sprechen.
„Weil es etwas bedeuten würde.“
Sie schauten einander lange in die Augen. Constance rechnete damit, dass er sie wieder küssen würde. Eigentlich äußerst ungebührlich, wie sehr sie sich wünschte, er würde es tun, stellte sie für sich fest. Sie spürte, wie sich ihre Brustknospen aufrichteten und ein nie gekanntes Verlangen von ihr Besitz ergriff. Hitze stieg in ihr auf, und sie konnte nicht unterscheiden, ob sie vor Verlegenheit oder vor Verlangen errötete.
Die Luft zwischen ihnen schien vor Spannung zu knistern. Dann trat der Viscount einen Schritt zurück.
Constance schluckte und wandte sich ab. „Ich … ich gehe besser in mein Zimmer.“
„Aber Sie haben noch kein Buch ausgewählt.“ Lächelnd deutete er auf das Regal hinter ihr.
„Ach ja.“ Sie drehte sich um und griff blind nach einem Band, hielt ihn sich vor die Brust wie einen Schutzschild und murmelte: „Gute Nacht, Mylord.“
„Gute Nacht, Miss Woodley. Schlafen Sie gut.“
Ein frommer Wunsch, dachte Constance, während sie den Korridor entlanghastete und die Treppe hinauffloh. Sie fühlte sich innerlich so aufgewühlt, in ihrem Kopf schwirrten so wirre Gedanken, dass sie vermutlich keinen Schlaf finden würde.
Weil es etwas bedeuten würde. Was hatte er ihr mit diesen Worten mitteilen wollen? Liebe? Heirat? Nein. Ein völlig absurder Gedanke; sie kannten einander kaum. Aber vermutlich hatte er damit gemeint, dass ein Kuss zwischen ihnen nichts Flüchtiges wäre, kein belangloser Spaß. Könnte er von etwas Tiefem und Dauerhaftem gesprochen haben?
Constance betrat ihr Zimmer und schloss die Tür, ging zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Vermutlich hatte er ihr damit nur zu verstehen geben wollen, dass sie beim zweiten Kuss den ersten Schritt auf einem Weg tun würde, der ins Verderben und in den gesellschaftlichen Ruin führte.
Ein zukünftiger Earl heiratete keine mittellose Tochter eines Baronets. Als Francesca vorhin die Liste der für Constance infrage kommenden Verehrer in Redfields aufzählte, hatte sie Lord Leighton nicht erwähnt. Francesca mochte sie, das wusste Constance, aber sie sah in ihr gewiss keine geeignete Braut für ihren Bruder … und die dünkelhaften, hochtrabenden Eltern, Lord und Lady Selbrooke, schon gar nicht.
Also sollte sie seine Worte wahrscheinlich als Warnung begreifen, überlegte Constance, wobei sie nicht wie eine Warnung geklungen hatten. In ihren Ohren hatten sie eher wie eine Einladung geklungen.
Sie lehnte die Stirn gegen das Fenster, schloss die Augen und erinnerte sich an den Kuss – an Lord Leightons Atem an ihrer Haut, den weichen und dennoch festen Druck seiner Lippen auf ihrem Mund, die Hitze und das
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