Ein Kuss vor Mitternacht
überlegen würde, mir einen Antrag zu machen, aber selbst wenn er die Absicht hätte, könnte ich nicht annehmen. Er ist ein sehr freundlicher Mann, aber ich denke nicht, dass ich mich je in ihn verlieben könnte und …“
„Aber, aber, meine Liebe“, fiel Francesca ihr ins Wort und drückte ihr besänftigend die Hand. „Machen Sie kein so trübsinniges Gesicht. Ich bin Ihnen nicht böse, wenn Sie sich nicht verloben. Und ich erwarte gewiss nicht, dass so etwas in den nächsten zwei Wochen passieren wird. Wir haben reichlich Zeit – und Cyril Willoughby ist schließlich nicht der einzige Anwärter. Da wären noch Alfred Penrose, Mr. Kenwick und Mr. Carruthers. Und Philip Norton. Lord Dunborough streichen wir von der Liste. Ich habe keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, den Langweiler einzuladen. Und wenn wir wieder in London sind, stelle ich Ihnen noch eine ganze Reihe möglicher Kandidaten vor.“
Der Knoten aus Angst und Unsicherheit in Constances Magen begann sich aufzulösen. „Mein Gott, bin ich froh, dass Sie das sagen. Ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie alles für mich getan haben, und bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür.“
„Unsinn. Das alles macht mir großen Spaß. Und was habe ich denn schon für Sie getan? Abgesehen von einem höchst unterhaltsamen Einkaufsbummel mit Ihnen und den paar Einladungen? Ich sollte mich bei Ihnen bedanken, weil Sie mich darin unterstützen, dieses Sommerfest amüsanter zu gestalten. Es ist jedes Jahr quälend langweilig.“
Unterdessen hatten sie die Tür zu Francescas Räumlichkeiten erreicht. „Nach meiner Darbietung im Musikzimmer sollte ich besser zu Bett gehen.“
Die Freundinnen wünschten einander eine gute Nacht, und Constance begab sich in ihr Zimmer, da sie die Ruhe dem anstrengenden Klavierspiel von Muriel Rutherford vorzog. Allerdings war sie noch nicht müde genug, um schlafen zu können. Deshalb beschloss sie, sich ein Buch aus der Bibliothek zu holen und zu lesen.
Also entzündete sie eine Kerze und huschte auf Zehenspitzen die Treppe noch einmal hinunter, den Flur entlang bis zur Bibliothek, und hoffte niemandem zu begegnen, denn sonst hätte es die Höflichkeit erfordert, wieder ins Musikzimmer zurückzukehren.
Auf einem Beistelltisch verbreitete eine Öllampe einen schwachen Schein. Constance schloss die Tür leise hinter sich, drehte den Docht höher, trat an die Regale zu ihrer Rechten und studierte die Buchrücken.
Bei einem Geräusch wirbelte Constance erschrocken herum. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, als sie einen Mann auf dem Sofa sitzen sah, der sie über die Rückenlehne hinweg beobachtete. Im nächsten Moment erkannte sie Lord Leighton. Sie fasste sich mit der linken Hand an ihr klopfendes Herz und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
„Wir sollten aufhören, uns auf diese Weise zu treffen“, sagte er. „Sonst kommen wir noch ins Gerede.“
„Sie haben mich fast zu Tode erschreckt“, entgegnete Constance. Der Schock ließ ihre Stimme barsch klingen. „Wo haben Sie gesteckt? Ich habe Sie nicht bemerkt.“
„Ich habe mich kurz hingelegt“, erklärte er, erhob sich und näherte sich ihr. „Wir verstecken uns wohl wieder? Vor wem denn diesmal? Der gefürchteten Tante? Nein, warten Sie, ich kenne die Antwort. Zweifellos aus dem gleichen Grund, aus dem ich geflohen bin. Muriel malträtiert das Klavier.“
Constance musste lachen, doch dann bemühte sie sich um eine strenge Miene. „Das dürfen Sie nicht sagen. Sie ist eine ausgezeichnete Pianistin.“
„Ohne Zweifel. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Mit ihrem Spiel malträtiert sie ihre Zuhörer.“
„Aber waren Sie denn nicht gemeinsam mit den anderen Herren im Rauchsalon?“, fragte Constance erstaunt.
„Gott behüte! Dort hielt sich mein Vater auf.“
Constance zog die Brauen hoch. Zwischen Vater und Sohn herrschte eindeutig ein angespanntes Verhältnis, wie sie bereits Lord Leightons früheren Bemerkungen über seine Familie und über seine seltenen Besuche in Redfields entnommen hatte. Sie hätte gerne die Ursache gewusst, aber es wäre höchst unhöflich, eine derartige Frage zu stellen, also unterließ sie es.
„Es tut mir leid, Sie gestört zu haben“, sagte sie stattdessen.
„Ihre Anwesenheit kann kaum eine Störung genannt werden“, versicherte er galant. „Bleiben Sie, und wir unterhalten uns ein wenig.“ Er deutete zum Sofa und zu den Stühlen, die in der Mitte des Raumes standen.
Constance warf einen Blick zur
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