Ein Kuss vor Mitternacht
all diese positiven Eigenschaften lösten nichts in Constance aus, nicht den winzigen Bruchteil der prickelnden Erregung, die sie durchströmte, wenn Lord Leighton sich ihr näherte.
Natürlich erwartete sie nichts von Lord Leighton. Und sie hatte keineswegs die Absicht, den Fehler zu begehen, sich in ihn zu verlieben, da sie sich sehr wohl darüber im Klaren war, wie unsinnig es wäre, sich Hoffnungen auf eine Heirat mit ihm zu machen. Andererseits wäre es ihr nicht möglich, einen Mann zu heiraten, für den sie keine Leidenschaft empfand. Ihre Freundin Jane behauptete zwar, Liebe brauche Zeit, Geduld und guten Willen, um wachsen zu können, aber Constance war der Ansicht, dass Liebe im Keim bereits vorhanden sein musste, um wachsen zu können. Mochte Mr. Willoughby auch ein liebenswerter Mensch sein, sie konnte sich ein Leben an seiner Seite nicht vorstellen.
Und obgleich sie noch nicht viel Zeit mit den anderen Gästen verbracht hatte, befürchtete sie, dass es ihr bei den Herren, die Francesca in ihr Elternhaus eingeladen hatte, nicht anders ergehen würde. Alfred Penrose, den sie gleichfalls bei Lady Simmingtons Ball kennengelernt hatte, war zwar ein glänzender Tänzer, schien sich allerdings vorwiegend für Pferde und die Jagd zu interessieren. Dann gab es noch Lord Dunborough! In seiner Gesellschaft hatte sie sich bereits nach zehn Minuten tödlich gelangweilt: Ein Leben an seiner Seite wäre eine unerträgliche Qual. Vor dem Dinner war sie drei weiteren Herren vorgestellt worden, deren Namen ihr entfallen waren, von denen sie allerdings auch nicht den Eindruck gewonnen hatte, sie könnten einen Funken Gefühl in ihr wecken. Constance konnte nur hoffen, dass Francesca nicht allzu enttäuscht wäre, wenn sie ihre Wette verlor.
Immerhin hatte Constance ihre neue Freundin gewarnt. Sie wusste selbst, dass sie verstiegen hohe Ansprüche in Bezug auf Männer hatte. Eine Eigenart, die für eine Frau im heiratsfähigen Alter schon ungünstig war, bei einem mittellosen, verblühten Mauerblümchen jedoch ein unüberwindliches Hindernis darstellte. Ihre Cousinen waren da völlig anders; die beiden schmachteten nahezu jeden Mann an, der das Wort an sie richtete, solange er nur einigermaßen jung und wohlhabend war. Wenn sie es sich allerdings recht überlegte, fand Constance ihre Ansprüche gar nicht zu hoch gegriffen, und sie gestand ja auch freimütig ein, dass Mr. Willoughby einen guten Ehemann abgeben würde. Ihr Fehler lag eben darin, dass sie sich nicht leicht verliebte. Und in Momenten, in denen sie besonders kritisch über sich nachdachte, glaubte sie, sie könne sich gar nicht verlieben.
Einmal aber war sie verliebt gewesen. Damals, als die Krankheit ihres Vaters sich verschlimmert hatte und sie für einige Monate nach Bath gereist waren, in der Hoffnung, das Heilwasser und die Seeluft würden seinem Leiden Linderung verschaffen. In Bath war Constance Gareth Hamilton begegnet. Sie hatte ein paar Wochen im Glück geschwelgt, als er ihr den Hof machte, und sich seligen Hoffnungen hingegeben. Doch ihr Glück war an den rauen Klippen der Wirklichkeit zerschellt. Gareth hatte um ihre Hand angehalten, aber sie sah sich gezwungen, seinen Antrag abzulehnen, da ihr Pflichtgefühl nicht zuließ,ihren Vater in seiner Krankheit allein zu lassen. Also hatten Gareth und sie sich getrennt.
Ihre Freundin Jane pflegte mit einem romantischen Stoßseufzer zu sagen, Constance trauere ihrer verlorenen Liebe bis heute nach, wobei Constance selbst diese Meinung nicht teilte. Sie trauerte nicht um Gareth, dachte eigentlich gar nicht mehr an ihn. Allerdings fragte sie sich gelegentlich, ob diese bittere Erfahrung ihre Seele tief verletzt und ihr die Fähigkeit zu lieben genommen hatte.
Nach dem Dinner verabschiedeten sich die Herren zu einem Glas Port und einer Zigarre in den Rauchsalon, während die Damen sich ins Musikzimmer begaben. Lady Selbrooke machte den Vorschlag, Miss Rutherford möge die Gäste mit ihrem Klavierspiel erfreuen. Das dunkelhaarige, gertenschlanke Mädchen trat ans Piano, fächerte die Notenblätter durch und setzte sich.
Muriel Rutherford war eine ausgezeichnete Pianistin. Ihr Spiel war technisch perfekt, allerdings fehlte es ihm an Gefühl und Leidenschaft, und die Sonate, die sie vortrug, war düster und sehr getragen. Nach dem mehrgängigen Menü wirkte die ernste Musik einschläfernd auf Constance, die nach einer Weile Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass die
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