Ein Kuss vor Mitternacht
auf der Flucht vor dem Heiratsmarkt.“
„Ja. Wobei ich es als äußerst unwahrscheinlich erachte, mich vor Verfolgern verstecken zu müssen“, konterte sie scherzhaft.
„Das kann ich nicht glauben. Gibt es denn wirklich so wenige Männer, die Augen im Kopf haben?“
„Das ist eigentlich nicht der Punkt. Es gibt vermutlich außer Ihnen auch andere Männer, die kein Interesse an einer Heirat haben“, betonte sie. „Und vor anderweitigen männlichen Interessen sollte eine Frau sich hüten, um nicht auf Abwege zu geraten.“
Sie genoss das schlagfertige Geplänkel mit dem Viscount, die versteckten Andeutungen und Wortspiele. Als sie aber den Blick durch den Raum schweifen ließ, begegnete sie den eiskalten Augen von Miss Rutherford. Die offene Feindseligkeit der jungen Frau dämpfte Constances heitere Stimmung beträchtlich. Wieso brachte sie ihr diese unbegründete Abneigung entgegen? Vielleicht hatte ihre Ablehnung etwas mit Lord Leighton zu tun. Vielleicht bestand zwischen ihm und Miss Rutherford eine Beziehung.
Constance musterte ihren Gesprächspartner aufmerksam, aber in seinem Gesicht las sie nichts anderes, als dass er ein ähnliches Vergnügen bei ihrer Plauderei empfand wie sie selbst. Er benahm sich nicht wie ein Mann, der an eine andere Frau gebunden war. Und seine Bemerkungen über seine Flucht vor heiratswütigen Verehrerinnen ließen nicht auf eine bevorstehende Verlobung schließen. Sie musste sich irren. Muriel Rutherfords Abneigung gegen sie hatte gewiss einen anderen Grund. Vielleicht sah Muriel in jeder Frau eine Konkurrentin um die Gunst eines Mannes. Was auch immer dahinterstecken mochte, Constance beschloss, ihr in Zukunft möglichst keine Beachtung zu schenken.
Lord Leighton war im Begriff, etwas zu sagen, als der Gong ertönte. Er entschuldigte sich, um seine Mutter zum Dinner zu begleiten. Lord Selbrooke führte die Prozession an durch eine breite Schiebetür, deren zwei Flügel von einem Lakaien in die Wand geschoben worden waren, um den Blick in den großen Speisesaal freizugeben. Die Dowager Duchess of Chudleigh trippelte am Arm des Earls, gefolgt von Lord Leighton und Lady Selbrooke; der Rest der Dinnergesellschaft reihte sich dahinter ein.
Sir Lucien, den Constance bisher noch nicht bemerkt hatte, trat an ihre Seite und bot ihr seinen Arm, den sie mit einem dankbaren Lächeln ergriff. Ohne Francescas Nähe fühlte sie sich ziemlich verloren unter all den fremden Menschen. Er brachte sie an ihren Platz am Ende der langen Tafel, in einiger Entfernung von Francesca und Lord Leighton, die am Kopfende platziert waren. Zum Glück saß Constance zwischen Sir Lucien und Cyril Willoughby, einem aufmerksamen Herrn Mitte dreißig mit klugen braunen Augen. Ihre Befürchtung, sie würde sich als einsilbige, tollpatschige Tischdame bloßstellen, schwand rasch. Sir Lucien hatte sie bereits als geistreichen Plauderer erlebt, und auch mit Mr. Willoughby hatte sie bei Lady Simmingtons Ball schon ein wenig länger gesprochen und ihn als freundlich und redegewandt kennengelernt.
Daher verlief das Dinner mit seinen zahlreichen Gängen, das sich über eine Stunde hinzog, in erstaunlich angenehmer Atmosphäre für Constance. Sir Lucien erheiterte sie mit Anekdoten aus dem Leben einzelner Gäste, die er ihr mit gedämpfter Stimme erzählte. Wenn er sich Miss Norton, seiner Tischdame zur Linken, zuwandte, unterhielt Constance sich mit Mr. Willoughby angeregt über ein Lieblingsthema ihres Vaters, der in der Geschichte Großbritanniens bewandert gewesen war, nämlich die erbitterten Rosenkriege zwischen den Häusern York und Lancester um die Thronherrschaft.
Mr. Willoughby entpuppte sich als Bewunderer von Edward IV. und als ähnlich fundierter Kenner englischer Geschichte, wie Constances Vater einer gewesen war. Mr. Willoughby besaß ein bescheidenes Herrenhaus in Sussex, erzählte er, nachdem das Thema Geschichte weitgehend erörtert war, und schilderte das benachbarte verschlafene Dorf Lower Boxbury. Constance unterhielt sich gerne mit Mr. Willoughby und freute sich, dass Francesca ihn in die Liste der potenziellen Verehrer aufgenommen hatte. Ein gebildeter und belesener Mann, zudem vermögend, kurzum ein Mann, den viele Frauen gern heiraten würden.
Das Problem bestand indes darin, dass er keinerlei Reiz auf sie ausübte. Er war von angenehmem Äußeren, Haltung und Kleidung ließen nichts zu wünschen übrig, seine Manieren waren untadelig, er besaß sogar einen gewissen Sinn für Humor. Aber
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