Ein Kuss vor Mitternacht
Constance verächtlich von Kopf bis Fuß.
Constance errötete verlegen und griff sich unwillkürlich ins zerzauste Haar. Alle starrten sie an in ihrem lehmbespritzten, zerknitterten Kleid, das schlaff an ihr herunterhing. Zu allem Überfluss hatte ihr der Sturm auch noch den Hut vom Kopf gerissen, ein unmöglicher Zustand, da eine Dame sich im Freien niemals ohne Hut zeigte.
„Bedauerlich, wenn Sie sich um Constance und mich Sorgen machten“, meinte Dominic ruhig, Muriel gleichmütig anschauend. „Das tut mir leid.“
„Ja, wir waren in Sorge, es könnte euch etwas zugestoßen sein“, fügte Francesca hinzu und eilte die Stufen herunter. „Und ich bin froh, dass ihr wohlbehalten wieder da seid.“ Sie schloss Constance tröstend in die Arme. „Sie Ärmste, Sie müssen schreckliche Angst bei diesem unheimlichen Gewitter ausgestanden haben.“
Constance stiegen Tränen der Dankbarkeit in die Augen. Francesca bemühte sich sichtlich, sie zu beschützen. Wenn sie Lady Haughstons Schutz genoss, die offenbar nichts Tadelnswertes an ihrem Verhalten und dem langen Ausbleiben fand und ihr nach wie vor ihre Zuneigung schenkte, wäre den sensationslüsternen Klatschbasen der Wind aus den Segeln genommen.
„Der strömende Regen durchnässte uns bis auf die Haut“, erklärte Dominic. „Aber zum Glück fanden wir einen Unterschlupf, wo wir abwarten konnten, bis das Schlimmste vorüber war.“
„Unterschlupf?“, wiederholte Muriel verdutzt, doch dann begriff sie, und ihre Augen sprühten Feuer. „Etwa in der Hütte? Auf dem Weg zum Gipfel? Ihr seid völlig allein in dieser Hütte gewesen?“
„Schweigen Sie, Muriel!“, forderte Francesca die Furie auf.
Aber Muriel war nicht mehr zu bremsen. Ein bösartiges Lächeln flog über ihr hageres Gesicht. Sie fuhr zu Constance herum und schrie gellend: „Sie haben sich stundenlang mit Lord Leighton allein in dieser Hütte aufgehalten! Welche Schande! Damit ist Ihr Ruf ruiniert, Miss Woodley.“
Constance straffte die Schultern. Hinter Muriel hörte sie das Raunen der anderen Ausflügler. Im ersten Moment wollte sie den Vorwurf entrüstet zurückweisen und behaupten, es sei nichts geschehen, hätte sie nicht befürchtet, jeder der Anwesenden würde ihr diese Lüge vom Gesicht ablesen.
„Muriel, seien Sie endlich still!“, raunzte Francesca sie an. „Die beiden wurden vom Gewitter überrascht. Was hätten sie denn tun sollen? Hätten sie im strömenden Regen den gefährlichen Abstieg wagen und einen Absturz riskieren sollen?“
„Eine anständige Frau hätte sich niemals auf ein derartiges Abenteuer mit einem Mann eingelassen“, entgegnete Muriel schneidend. „Im Übrigen hat das Gewitter gar nicht so lange gedauert. Wer weiß, was in der Zwischenzeit passiert ist?“
Constance, die sich der neugierigen Blicke aller bewusst war, errötete bis unter die Haarwurzeln. Muriel gefiel es sichtlich, die Rivalin in aller Öffentlichkeit bloßzustellen und zu demütigen.
Sie schaute Constance hasserfüllt mit boshaft glitzernden Augen an, ihre Stimme troff vor Hohn. „Ihr Name ist besudelt, Ihr Ruf ein für allemal befleckt, Sie sind entehrt und können sich nirgendwo mehr blicken lassen, geschweige denn hoffen, je einen Mann …“
„Muriel!“ Dominics scharfe Stimme traf Muriel wie ein Peitschenhieb. Sie zuckte erschrocken zusammen und stockte mitten im Satz. „Wenn Sie Ihren Verstand einsetzen und eine Sekunde nachdenken würden, müssten Sie einsehen, dass Miss Woodleys guter Ruf nicht den geringsten Schaden genommen hat, nur weil sie Zuflucht vor einem Gewitter suchte mit dem Mann, mit dem sie verlobt ist.“
Ein verblüfftes Schweigen senkte sich über die Gruppe. Francesca und Constance wirbelten gleichzeitig zu Dominic herum. Muriel war kalkweiß geworden und starrte ihn mit offenem Mund an.
„Nein, Dominic …“ Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen.
Er betrachtete sie gleichmütig mit hochgezogenen Brauen, bevor er sich an Constance wandte. „Verzeihen Sie, meine Liebe, unsere Verlobung so formlos zu verkünden. Aber ich will vermeiden, dass gewisse Leute auf falsche Gedanken kommen.“
Er ließ seinen kühlen Blick über die hinter Muriel stehenden Ausflügler schweifen, auf deren Gesichtern sich Neugier, Sensationslust und Überraschung spiegelten. Gemütsregungen, die unter Dominics scharfer Musterung rasch einer ausdruckslos höflichen Maske wichen.
Und dann brach Calandra schließlich das eisige Schweigen. „Wie wunderbar! Francesca,
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