Ein Kuss vor Mitternacht
Strafpredigt halten, weil sie sich in ihrer maßlosen Bosheit dazu hinreißen ließ, ihrer eigenen Sache zu schaden. Natürlich hat sie es nicht besser verdient, aber im Grunde tut sie mir leid. Lady Rutherford kann ein wahrer Teufel sein, wenn sie in Wut gerät.“ Sie machte eine Pause, bevor sie sinnend hinzufügte: „Allerdings jagt mir Lady Rutherford auch Angst ein, wenn sie nicht wütend ist.“
„Dominic trifft keine Schuld an dieser vertrackten Situation. Auf dem Felsen waren wir so sehr ins Gespräch vertieft, dass wir nicht auf die Zeit achteten und nicht bemerkten, dass sich ein Gewitter zusammenbraute. Erst als Regen und Sturm stärker wurden, suchten wir Zuflucht in der Hütte. Das war alles, es ist nichts geschehen.“ Bei dieser dreisten Lüge wagte sie allerdings nicht, Francesca anzusehen, senkte die Lider und murmelte: „Dominic hat nichts Unrechtes getan. Er muss mich nicht heiraten. Bitte, Francesca, glauben Sie mir, ich hatte nicht die Absicht, Ihren Bruder zu diesem Schritt zu zwingen.“
„Sie müssen sich nicht rechtfertigen“, antwortete Francesca gelassen. „Ich bin mir sicher, dass ich Sie gut genug kenne, um zu wissen, was für ein Mensch Sie sind.“
In diesem Augenblick klopfte ein Stubenmädchen an die Tür. Francesca rief es hinein und bestellte Tee und erteilte die Anweisung, ein heißes Bad für Constance zu bereiten.
Nachdem das Mädchen gegangen war, meinte Francesca besorgt: „Jetzt ist es aber höchste Zeit, dass Sie sich ausziehen.“
Constance nestelte an den Knöpfen ihrer Jacke. „Es wäre vielleicht besser, wenn ich mir einen Imbiss aufs Zimmer bringen lasse, statt zum Dinner zu erscheinen.“
„Aber nein“, widersprach Francesca entschieden. „Genau das werden Sie nicht tun. Ich kann verstehen, dass es Ihnen unangenehm ist, den anderen Gästen zu begegnen, aber es ist wichtig, aller Welt klarzumachen, dass Sie nichts zu verbergen haben und sich nicht schämen müssen. Und Dominic, Calandra und mir geben Sie Gelegenheit, aller Welt zu zeigen, dass wir uns nicht beeindrucken lassen, wenn boshafte Klatschbasen üble Gerüchte verbreiten.“
Constance musste Francesca zustimmen. Wenn die Schwester eines Dukes und die Tochter eines Earls ihr zur Seite standen und damit demonstrierten, dass sie der üblen Nachrede keinen Glauben schenkten, wäre den Spekulationen Einhalt geboten, die zweifellos bereits die Runde machten. Aber es widerstrebte Constances aufrichtigem Wesen zutiefst, lächelnd mit den Gästen zu plaudern und so zu tun, als sei alles wunderbar.
„Ich weiß. Aber es ist … so ungerecht! Es ging alles so schnell, der Himmel war schwarz, es fing an zu regnen. Der Wind wehte mir den Hut vom Kopf. Zu allem Überfluss rutschte ich auch noch den steilen Hang hinunter. Ich muss völlig verlottert aussehen. Aber dafür kann Dominic doch nichts“, erklärte Constance verzagt.
„Widrige Umstände zwangen euch, euch von den anderen Ausflüglern zu trennen. Und dann machte auch noch Ihre Cousine auf halbem Weg schlapp und veranlasste Calandra und die Herren, bei ihr zu bleiben“, stellte Francesca fest. „Das Schlimmste ist natürlich die Tatsache, dass Muriel in ihrer Bosheit und Niedertracht alles tut, um Sie zu beleidigen und schlechtzumachen, auch wenn sie sich damit selbst noch die letzten Sympathien verdorben hat.“
„Aber warum macht sie das nur?“, fragte Constance hitzig.
„Muriel hätte Sie gewiss nicht angegriffen, wenn sie geahnt hätte, wie Dominic darauf reagiert. Sie schätzt meinen Bruder völlig falsch ein. Sie meint, alle Menschen sind so gehässig und skrupellos, wie sie es ist, und hat vermutlich damit gerechnet, dass Dominic sich von Ihnen abwendet, wenn Ihnen der Stempel einer liederlichen Frau aufgedrückt ist.“
Francesca half Constance aus den feuchten Kleidern und redete weiter. „Muriel befindet sich in einer ziemlich verzweifelten Lage, was offenbar ihr Denkvermögen einschränkt. Ich glaube, sie sieht in meinem Bruder ihre letzte Chance, sich einen Ehemann nach ihren Wünschen zu angeln. Mit dem Hintergrund des beträchtlichen Familienvermögens der Rutherfords konnte sie sich bis vor wenigen Jahren einer Reihe interessanter Verehrer rühmen, die sie aber allesamt mit ihrer kalten, hochfahrenden Art in die Flucht schlug. Der Kreis ihrer Bewerber beschränkt sich ohnehin auf Angehörige der Hocharistokratie, da Muriel es als absolut unmöglich und unter ihrer Würde betrachtet, einen Baron oder gar einen
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