Ein Kuss vor Mitternacht
Bürgerlichen auch nur eines Blickes zu würdigen. Für sie dient eine Eheschließung in erster Linie dazu, einen höheren gesellschaftlichen Rang zu erreichen.“
Constance schüttelte wehmütig den Kopf. „Es wäre traurig, wenn Dominic diese Frau heiratet“, sagte sie leise.
Sie stieg aus dem Rock und setzte sich auf den Hocker, um die Stiefel auszuziehen. Dann schlüpfte sie in die Ärmel des Morgenmantels, den Francesca ihr reichte, und kuschelte sich wohlig in die warme Wolle, froh, endlich die feuchten Kleider los zu sein.
„Aber mich darf Dominic auch nicht heiraten“, erklärte sie und blickte Francesca eindringlich in die Augen. „Das wissen Sie ebenso gut wie ich. Er erzählte mir von der hohen Schuldenlast, die auf dem Besitz liegt. Eines Tages muss er eine reiche Frau ehelichen, um den Familienbesitz zu bewahren. Er darf keine mittellose Frau heiraten, die nicht einmal eine anständige Mitgift vorzuweisen hat. Ich werde nicht zulassen, dass er diesen Fehler begeht.“
Francesca sah sie lange an.„Meine Liebe, diese Entscheidung müssen Sie Dominic schon selbst überlassen. Ehrlich gestanden, bleibt Ihnen gar keine andere Wahl, denn kein Mensch kann Dominic dazu bringen, etwas zu tun, wovon er nicht überzeugt ist. Dafür kenne ich ihn zu gut.“
Diese Worte waren nicht dazu angetan, Constances Gewissen zu beruhigen, und bestärkten sie mehr denn je darin, um jeden Preis zu verhindern, dass Dominic sich durch sein Pflichtgefühl ihr gegenüber seine Zukunft ruinierte.
Nachdem Francesca sich verabschiedet hatte und Constance sich im heißen Wasser der Kupferwanne aufwärmte, und später, als Maisie ihr beim Ankleiden half, ihr das Haar trocknete und hochsteckte, dachte sie immer noch tief besorgt darüber nach, wie sie das Problem lösen könnte.
Die Vorstellung, Dominic eine Eheschließung mit ihr aufzubürden, war ihr unerträglich. Wobei sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn zu heiraten. Erst heute war ihr endgültig klar geworden, wie sehr sie ihn liebte, deshalb hatte sie sich ihm in der Hütte hingegeben.
Aber auf ihre eigenen Gefühle durfte sie nun keine Rücksicht nehmen. Sie durfte Dominics Zukunft nicht ihrem eigennützigen Glück opfern, zumal er gar nicht den Wunsch hatte, sie zu heiraten. Die Ankündigung der Verlobung hatte lediglich stattgefunden, um Constance Schmach und Schande zu ersparen, nicht weil er sie liebte. Während ihres stürmischen Zusammenseins hatte er Liebe mit keinem Wort erwähnt. Gewiss, er begehrte sie, aber er liebte sie nicht.
Die Lage wäre gewiss anders, wenn er um ihre Hand angehalten hätte, weil er ohne sie nicht leben konnte. Wäre er bereit, seine familiären Pflichten zu vernachlässigen, weil er nicht auf die Frau verzichten wollte, die er liebte, hätte Constance alle Bedenken beiseitegeschoben und ihm ihr Jawort gegeben. Es hätte sie nicht gestört, ein Leben in Armut zu führen, solange Dominic es mit ihr teilte.
Aber er liebte sie nicht. Er hatte sie ja nicht einmal gebeten, seine Frau zu werden. Und ohne Liebe wollte sie ihn auch gar nicht.
Es musste etwas geschehen, und sie war die Einzige, die etwas tun konnte. Constance warf einen Blick zur Standuhr auf der Kommode. Es blieb noch etwas Zeit vor dem Dinner. Sie musste alles tun, was in ihrer Macht stand, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
Sie atmete tief durch und verließ energischen Schrittes das Zimmer.
15. KAPITEL
Constance eilte den Korridor entlang, klopfte leise an eine Tür und trat nach der Aufforderung ihrer Tante ein.
Ihr Onkel hatte es sich im Lehnstuhl am Fenster bequem gemacht, während seine Gemahlin sich vor dem hohen Spiel drehte und den Sitz ihrer Frisur prüfte. Bei Constances Erscheinen blickten beide erstaunt auf.
„Komm nur herein, Mädchen“, lud Onkel Roger sie leutselig ein.„Und mach kein so ernstes Gesicht. Wir sind nicht böse mit dir. Ganz schön raffiniert, wie du das eingefädelt hast, muss ich sagen. Aber zum Glück ist ja alles glimpflich verlaufen.“
„Ich bin hier, um euch um Erlaubnis zu bitten, abzureisen und nach Hause fahren zu dürfen“, erklärte Constance ohne Umschweife.
„Was?“ Ihr Onkel starrte sie verständnislos an.
„Was redest du für dummes Zeug?“, meldete Tante Blanche sich zu Wort. „Wieso willst du abreisen? Nun ja, es wird einigen Klatsch geben, aber Lord Leighton hat sich nobel verhalten, und bald wird Gras über die leidige Sache gewachsen sein. Vorausgesetzt, du bist vernünftig und rennst nicht
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