Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
menschlichen Vorstellungsvermögen, zumal die Folgen nicht nur persönlicher Art sind. In meiner ersten Amtszeit als UN -Generalsekretär, von 1997 bis 2002, schuf HIV/AIDS in den Entwicklungsländern einen wahren Katstrophencocktail. In mancher Hinsicht war AIDS schlimmer als Krieg. 1999 starben Schätzungen zufolge in Afrika zehnmal mehr Menschen an AIDS als in bewaffneten Konflikten. Bis zum Jahr 2000 hatte die Krankheit weltweit 13 Millionen Kinder zu Waisen gemacht, und 34,3 Millionen Menschen lebten mit dem Virus, das bis zu diesem Zeitpunkt bereits 18,8 Millionen Menschenleben gefordert hatte.
Noch schlimmer war, dass die Krankheit nicht nur Infizierten das Leben nahm, sondern auch die Zukunft der Überlebenden gefährdete, indem sie den sozialen und institutionellen Zusammenhalt der Gesellschaften zerstörte. Denn den größten Zoll forderte sie unter jungen Erwachsenen – und hier insbesondere unter Frauen –, den produktivsten Mitgliedern der Gesellschaft, deren Aufgabe es unter anderem ist, die nächste Generation aufzuziehen. Sie tötete eine große Zahl von Ärzten, Krankenschwestern, Lehrern und anderen Akademikern, die für die ökonomische und soziale Entwicklung von wesentlicher Bedeutung sind. Sie nahm Haushalten die Ernährer und ließ Familien und Gemeinschaften in größter Verzweiflung zurück, ohne auch nur die grundlegenden Existenzmittel. Weitaus am schlimmsten war die Lage in Afrika. Im Jahr 2000 waren 70 Prozent der infizierten Erwachsenen und 80 Prozent der infizierten Kinder Afrikaner, und fast drei Viertel der Todesopfer waren in Afrika zu beklagen. In manchen Regionen des Kontinents waren die ökonomischen Umstände bereits dürftig, doch HIV/AIDS drohte alle wirtschaftlichen und sozialen Erfolge zunichtezumachen.
Aber es war keineswegs nur ein afrikanisches Problem. In Osteuropa sowie Süd- und Ostasien nahm damals die Zahl der Infizierten rasch zu. In Indien war HIV bereits ein Alltagsphänomen; allein im Bundesstaat Tamil Nadu gab es schätzungsweise eine halbe Million Infizierte. Die Zahlen waren erschreckend. Ich bewegte mich fast während meiner gesamten Amtszeit in einem internationalen Umfeld, das von der potentiellen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen besessen war. Aber in Form von AIDS , das weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog, entfaltete bereits eine echte Massenvernichtungswaffe ihre Wirkung, und zwar weltweit. Sie zeigte mehr als jede andere Pandemie, welche Gefahr Krankheiten international darstellen und wie wichtig die Millenniumsentwicklungsziele der UNO als Instrument des Eigeninteresses der reichen Länder waren.
Mehr als alle Statistiken blieben mir die Kinder, die dieser Krankheit zum Opfer gefallen waren, im Gedächtnis haften. Zusammen mit Nane besuchte ich HIV/AIDS -Kliniken, und wenn wir in Länder reisten, die am stärksten von der Pandemie betroffen waren, sprachen wir mit Sexarbeiterinnen und Opfern der Krankheit aus allen Gesellschaftsschichten. Für einen UN -Generalsekretär mochte dies nicht immer angemessen erschienen sein, wie nicht nur Leute vom Schlage Mugabes fanden. Aber wir konnten nicht so tun, als würde es diese Menschen nicht geben, oder gar versuchen, sie zu verstecken.
Bis zum Jahr 2000 tat die Welt so gut wie nichts gegen die Pandemie. Wie der Ökonom Jeffrey Sachs damals in einem Artikel feststellte, hatte die Welt, wenn man die Entwicklungshilfezahlen aufschlüsselte, für den Kampf gegen AIDS in ganz Afrika den beschämend unzureichenden Betrag von 70 Millionen Dollar übrig. Aber bei jedem Problem, wie ernst es auch sein mag, ergibt sich einmal eine Gelegenheit, die Gewichtsverteilung zwischen Interesse und Intervention zugunsten des Handelns zu verschieben; einem Handeln, das weitaus mehr ins Auge fassen musste als bloß die Auswirkungen einer einzigen Krankheit.
Als ich 1997 meine erste Amtszeit als UN -Generalsekretär antrat, hatte ich schon viele Jahre die langsamen, beschwerlichen Fortschritte bei der Verwirklichung der globalen Entwicklungsagenda beobachtet. Man war nicht weit gekommen. Während eines großen Teils des 20. Jahrhunderts waren immer neue Pläne für die Beseitigung der Armut und die internationale Zusammenarbeit aufgelegt worden, die regelmäßig scheiterten. Begrüßenswerte Initiativen waren unter dem Druck des internationalen Systems zusammengebrochen. Für mich hatte alles begonnen, als ich als afrikanischer Teenager am Vorabend der Entkolonialisierung zum Erwachsenen heranreifte;
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