Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
das durch Reformen und institutionelle Veränderungen gelöst werden müsse. Diese hängen von der lokalen Führung und von Partnern vor Ort ab, die sich wahrhaft für den sozialen Fortschritt engagieren.
Vielen Entwicklungsländern widerstrebt es, die zur Lösung institutioneller Probleme nötigen Reformen durchzuführen, da eine solche Politik zu Streit und Unruhe führen kann. (Lehrer- und Medizinergewerkschaften sind häufig mächtige Akteure in der lokalen Politik.) In einem Bericht aus dem Jahr 2011 über den Stand der Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele wird festgestellt, dass die Länder, die sich auf einem guten Weg befanden, nicht diejenigen waren, die besonders umfangreiche Hilfsleistungen erhielten, sondern diejenigen, die die größten Anstrengungen auf dem Gebiet der Wirtschaftsreformen unternahmen, einschließlich von Neuerungen im Dienstleistungssektor.
Die Verantwortung für Reformen liegt bei den Leuten vor Ort, den Politikern und anderen lokalen Persönlichkeiten. Aber angesichts der geschilderten Dynamik ist das Versäumnis der Geberländer, die nötigen Finanzhilfen zu leisten, wenn Reformen dieser Art durchgeführt werden, noch unverzeihlicher. Man muss den Reformern eine wirkliche Chance geben. Die Millenniumsentwicklungsziele bilden das Fundament einer wahrhaftigen Partnerschaft zwischen Reich und Arm. Die Menschen in den Entwicklungsländern sind verantwortlich, aber alle müssen mitwirken.
Von den zahlreichen Komponenten der Kampagne für die Millenniumsentwicklungsziele und unseres Kampfs gegen die Armut erfordert ein Thema besondere Beachtung: HIV/AIDS. Bei der Beschäftigung mit dieser Herausforderung griffen wir auf viele der Innovationen der Millenniumserklärung zurück und wandten sie intensiv an, um einer der schwersten Krisen während meiner Amtszeit als UN -Generalsekretär zu begegnen. Am 7. Dezember 1999 um 8.50 Uhr New Yorker Zeit klingelte das Telefon. Richard Holbrooke war am Apparat, der US -Botschafter bei den Vereinten Nationen.
»Wir sollten HIV/AIDS im Januar im Sicherheitsrat ansprechen«, sagte er.
Ich schwieg einen Augenblick voller Genugtuung. Denn ich war schon seit einiger Zeit der Ansicht, dass man HIV/AIDS , wenn man der Krankheit die nötige Aufmerksamkeit – und zwar der richtigen Art – verschaffen wollte, als Sicherheitsproblem betrachten musste. Dieses Thema durfte man nicht einfach in die Schublade mit dem Etikett »Gesundheit« wegräumen. Immerhin handelte es sich um eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung von globalem Ausmaß, also um genau die Art von Thema, für deren Behandlung die UNO und der Sicherheitsrat da waren. Eine Krankheit war allerdings noch nie vor den Sicherheitsrat gebracht worden. Das war jedoch ein fadenscheiniger Grund, nichts gegen eine Bedrohung zu unternehmen, die über Jahre hinweg globale Aufmerksamkeit erforderte. Offenbar hatte in den Korridoren der Macht eine hartnäckige Zwiespältigkeit die politischen Führer für die schlagenden Beweise, die sich Tag für Tag immer weiter anhäuften, unzugänglich gemacht.
»Nun, Richard, wir haben ein Problem«, erwiderte ich. »Ihnen ist klar, dass HIV/AIDS nicht als Friedens- und Sicherheitsproblem betrachtet wird, oder?« Ich stellte ihn absichtlich auf die Probe. Ich musste wissen, wie ernst er es meinte. Würde HIV/AIDS im Sicherheitsrat lediglich ein Randthema sein, eine vom »Eigentlichen« ablenkende Fußnote, oder ging es um eine Gelegenheit, das Problem ins Zentrum der internationalen Politik zu rücken? Alles hing davon ab, wie die Mächtigen es präsentierten.
»Sie wissen sehr gut, dass Sie mir vor über einem Jahr gesagt haben, es sei ein Sicherheitsthema!«, erinnerte Richard mich. »Wenn wir es jetzt vor den Sicherheitsrat bringen, bekommt es endlich die Aufmerksamkeit, die es verdient. Das wird eine Priorität des US -Vorsitzes im Sicherheitsrat bilden.«
Endlich war die Idee im Denken eines der großen Fünf angekommen. Die Mauer hatte einen Riss bekommen. Noch besser war, dass Holbrooke das Steuer in der Hand hatte. Ich vermutete, dass die anderen Ratsmitglieder diesen Kurswechsel möglicherweise nicht gutheißen würden. Aber Holbrooke hatte wie kein anderer die Kraft, Persönlichkeit und moralische Courage, die anderen Regierungen auf unbekanntes Gebiet zu führen. Mit dem Sicherheitsrat als rhetorischem Partner an der Seite bestand jetzt eine Chance, der HIV/AIDS -Agenda einen entscheidenden Anstoß zu geben. Holbrooke hatte an jenem Tag auch mit
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