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Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Titel: Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kofi Annan
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abzulenken, die in der arabischen Welt jahrzehntelang immer bestimmender geworden war. Tatsächlich gehörten die hartnäckig vorgebrachten Ausreden und Vorwände – von der Rolle Israels über den Einfluss des Iran bis zur Macht Amerikas –, mit denen die wirklichen Mängel so mancher politischen Systeme in der arabischen Welt verschleiert wurden, zu den regelmäßig wiederkehrenden Enttäuschungen, die ich als UN -Generalsekretär erlebte.
    Am Anfang meiner Amtszeit war ich stolz darauf, dass die Vereinten Nationen es arabischen Vertretern ermöglichten, die Probleme von Gesellschaften in der Region zu untersuchen und zur Diskussion zu stellen, was sie mit weit mehr Erfahrung und Glaubwürdigkeit tun konnten, als es Vorträge westlicher Politiker über die Demokratie vermochten. 2002 sorgte ein rein arabisches Forscherteam, das die Leiterin des arabischen Regionalbüros des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, Rima Khalaf, zusammengestellt hatte, mit dem ersten Arabischen [UN-]Bericht über die menschliche Entwicklung für beachtlichen intellektuellen Wirbel in den stagnierenden Wassern der öffentlichen Debatte in den arabischen Ländern. In diesem ersten sowie den folgenden Berichten wurden die arabischen Gesellschaften einer scharfen Selbstkritik unterzogen, die zu dem Ergebnis kam, dass ihre Entwicklung von drei überwiegend selbst verschuldeten Lücken blockiert wurde: der Freiheitslücke, der Geschlechterkluft und der Wissenslücke. Wenn die arabischen Gesellschaften keine auf Freiheit und Demokratie beruhenden politischen Systeme aufbauten, die Frauen nicht mit gleichen Rechten ausstatteten und ihre Defizite in Bildung und Erziehung nicht überwanden, würde die heranwachsende Generation, die jetzt ins Erwachsenenalter eintrat, in eine von Frustration und mangelnden Möglichkeiten geprägte Zukunft gehen. Ab und zu beschwerten sich arabische Politiker bei mir über die Berichte, aber sie konnten etwas, das von arabischen Stimmen und mit der Legitimität der Vereinten Nationen vorgetragen wurde, nicht einfach als irrelevant abtun.
    Die Anfang 2011 in der arabischen Welt entstandenen Protestbewegungen stellen eine Chance für die Region dar, um die Fesseln jahrzehntelanger Missherrschaft, der ein jahrhundertelanger Niedergang vorangegangen war, abzuwerfen. Sie sind in vielerlei Hinsicht die Antwort der arabischen Jugend auf die Missstände, die in den Berichten über die menschliche Entwicklung angesprochenen worden waren. Es ist ihre Art zu sagen: »Wir wissen, dass wir zurückfallen, und wir wissen, warum: weil Politik und politische Tyrannei durch ein falsches Bündnis gestützt wurden, das Stabilität über Fortschritt stellte.« Normale Menschen, insbesondere junge, die heute in den arabischen Gesellschaften die Mehrheit bilden, haben mit Beredsamkeit und Mut gezeigt, dass die arabische Welt aus mehr besteht als aus Monarchen, Moscheen und Militanten, die ansonsten das weltweite Image der Region geprägt haben.
    Während ich dies schreibe, ein Jahr nach dem arabischen Frühling, bin ich in Bezug auf die im Gang befindlichen Veränderungen weiterhin optimistisch. Es wäre allerdings naiv, anzunehmen, dass sie einen leichten, geradlinigen Weg zu einem freien, stabilen Nahen Osten darstellen. Die ökonomischen Probleme und sozialen Spannungen sind enorm. Reaktionäre Kräfte werden zurückschlagen. Radikale Kräfte werden versuchen, die Vorgänge zu vereinnahmen. Die Geopolitik wird nicht auf der Stelle treten. Religiöse und ethnische Spannungen können leicht geschürt werden. Wir müssen uns also auf viele Unebenheiten gefasst machen.
    Klar ist jedoch, dass die Hauptakteure, die diesen Wandel gestalten, aus der arabischen und islamischen Welt kommen müssen. Die Forderungen der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo waren zwar universal, wurzelten aber in Werten ihrer eigenen Gesellschaft. Vor den arabischen Gesellschaften liegt jetzt die Aufgabe, einen neuen Konsens für ihre politischen Systeme und kulturellen Werte zu finden. Die Vereinten Nationen werden unweigerlich auf verschiedene Weise in die Entwicklung einbezogen werden. Man denke nur an die Rolle des Sicherheitsrats bei der Intervention in Libyen, an die diplomatischen Anstrengungen der UNO dort und im Jemen, an die Stellungnahmen des UN -Menschenrechtssprechers gegen Assads brutales Vorgehen in Syrien oder an die Hilfe, die Ländern wie Tunesien und Ägypten bei ihrem Umgestaltungsprozess geleistet wurde. Die Vereinten Nationen

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