Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
müssen, wie sie es mit den arabischen Berichten über die menschliche Entwicklung bereits tun, jene Kräfte in der Region stärken, die entschlossen sind, diese Themen tiefgreifend zu diskutieren und verantwortungsvoll einen wirklichen Wandel herbeizuführen.
Die Bewegung für Legitimität und Verantwortlichkeit, die arabischen Völkern lange Zeit nicht möglich war, dreht sich nicht um Israel, den Iran oder die Vereinigten Staaten. Vielleicht zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist es den Herrschern und Reaktionären nicht möglich, diesen äußeren Kräften die Schuld an einer Stagnation zuzuschieben, die in weit größerem Maß hausgemacht als von außen aufgezwungen ist. Zu lange war die Region allein durch den arabisch-israelischen Konflikt und die Missetaten Israels und des Westens politisiert worden. Der arabische Frühling hat die Menschen auf der Straße durch die Perspektive auf die eigene gesellschaftliche Zukunft auf eine neue Art und Weise politisiert.
8 DIE KRIEGE VON 9/11
Terror, Afghanistan, der Irak und
die Vereinten Nationen am Abgrund
19. August 2003
Ich befand mich auf der anderen Seite der Welt, als mein Chef de Cabinet Iqbal Riza mich anrief. Er hatte mich auf einer kleinen Insel in Finnland aufgespürt, wo meine Frau und ich einen Kurzurlaub verbrachten. Das UN -Hauptquartier in Bagdad war Ziel eines schweren Bombenanschlags geworden, dem viele Menschen zum Opfer gefallen waren. Mein guter Freund und Sonderbeauftragter Sergio Vieira de Mello, der seit der von den Amerikanern angeführten Invasion des Irak unsere dortige Vertretung leitete, war im Chaos nach dem Anschlag nicht auffindbar. Von anderen Mitgliedern unseres Teams wusste man, dass sie tot oder verwundet waren, nur wer und wie viele war noch unklar.
Als wir über meine sofortige Rückkehr nach New York sprachen, riet mir Riza, vorsichtig zu sein und möglichst diskret zu reisen. Vielleicht sei ja eine größere Kampagne gegen die Vereinten Nationen im Gang. Wegen meiner Rolle bei der Zerstückelung Indonesiens – wie al-Qaida es nannte –, des größten moslemischen Landes in Asien, durch die Abspaltung Osttimors, hatte mich die Terrororganisation schon vor langer Zeit als eines ihrer Ziele benannt, und Sergio hatte sie aus demselben Grund auf ihre Todesliste gesetzt. Nachdem ich Sergio gebeten hatte, die Rückkehr der UNO in den Irak zu leiten, hatten Riza und ich lange mit ihm über die vor ihm liegende komplexe Aufgabe gesprochen, die zwar notwendig, aber von Anfang an vergiftet war.
Sergio hatte seine Aufgabe, wie nicht anders zu erwarten, mit der ihm eigenen einzigartigen Mischung aus Mut, Tatkraft, Sensibilität, Schläue sowie Treue zum höchsten Grundsatz der Vereinten Nationen, dem Schutz von Zivilisten, in Angriff genommen. Bei seiner Ankunft in Bagdad drei Monate zuvor hatte er einerseits eine gebrochene Gesellschaft und andererseits eine selbstherrliche amerikanische Besetzungsmacht vorgefunden, die von der Komplexität des Irak keine Ahnung hatte. Am Tag vor dem Bombenanschlag hatte ich ihn aus Finnland angerufen. Während des Urlaubs war ich zu dem Schluss gelangt, dass er zu Konsultationen ins UN -Hauptquartier kommen müsse, um unsere Rolle im Irak nüchtern zu prüfen. Er stimmte erfreut zu und bestand darauf, von New York nach Rio weiterzureisen, um seine Mutter zu besuchen und für einige Wochen eine Auszeit von den Belastungen der Leitung unserer Aktivitäten im Irak zu nehmen. Ich stimmte zu, und wir beendeten das Gespräch mit Witzen und Gelächter, bevor wir uns mit unserem üblichen Gruß verabschiedeten: »Mut!«
Als ich am Ende einer, wie ich es empfand, endlosen Reise in New York eintraf, empfing mich Riza am Flughafen. Er bestätigte unsere schlimmsten Befürchtungen: Sergio, Nadia Younes – seine Stabschefin und meine frühere Protokollchefin – und beinahe zwei Dutzend andere Kollegen waren, wie man annahm, dem Anschlag zum Opfer gefallen. Während des Fluges hatte ich mich gefragt: Warum musste das passieren? Hätte ich es vermeiden können? Hätte ich etwas anders machen können, um die UN -Mitarbeiter zu schützen? War es richtig, sie nach Bagdad zu schicken und dort zu belassen? Ich ging meine Argumente wieder und wieder durch, während ich an meine Kollegen und die Familien, die sie hinterließen, dachte.
Ein Krieg, den ich mit jeder Faser meines Seins zu verhindern versucht hatte, hatte das Leben zweier Kollegen, die mir besonders nahestanden, und das einiger der brillantesten,
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