Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
ungeheuerlichen Kriegsziele bewegen können. Zweitens und von gleicher Bedeutung war die Gelegenheit, welche die Krise im Kosovo bot. Nun galt es, bei internationalen Angelegenheiten neue Saiten aufzuziehen und einen neuen Maßstab dafür zu setzen, wie wir Staaten für die Behandlung und den Schutz der in ihren Grenzen lebenden Bevölkerung zur Verantwortung ziehen. Wir mussten klarstellen, dass das Recht des Einzelnen auf die Bewahrung vor grober, systematischer Verletzung seiner Menschenrechte nicht von dem Recht souveräner Staaten auf Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten außer Kraft gesetzt wurde.
Dieser Politikwechsel war nicht nur bei vielen Mitgliedsstaaten, die an dem sakrosankten Prinzip der Souveränität festhielten, sondern auch im UN -Sekretariat selbst umstritten. Die Kosovokrise löste unter meinen Beratern eine heftige Debatte aus, in der die Lehren aus dem vorangegangenen Jahrzehnt der Friedenssicherung gezogen wurden. Auf der einen Seite argumentierten die Karrierediplomaten und Sekretariatsmitarbeiter, dass die anerkannte Regierung in Belgrad das Recht und die Pflicht habe, in ihrem Territorium die Ordnung aufrechtzuerhalten, und es nicht Sache der UNO sei – und schon gar nicht des Generalsekretärs –, die Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zu lenken und auf eine energische Reaktion ausländischer Mächte zu drängen. Auf der anderen Seite standen jene Berater, nach deren Ansicht wir angesichts des wiederholten Fehlverhaltens eines bekannten Schurkenregimes, das eine weitere Volksgruppe am Balkan mit einer »ethnischen Säuberung« bedrohte, nicht in blinder Neutralität verharren durften, wenn wir unser Ansehen nicht ruinieren wollten – insbesondere bei all denen, die von den Vereinten Nationen erwarteten, potentielle Opfer zu schützen.
Mein eigenes Gefühl sagte mir, dass wir unsere Glaubwürdigkeit und Autorität bei den wichtigsten Mitgliedern des Sicherheitsrats, einschließlich Russlands, die eine Beendigung der Gewalttätigkeiten anstrebten, aufrechterhalten, gleichzeitig aber deutlich machen sollten, dass unsere Reaktion diesmal anders ausfallen würde. Die Vereinten Nationen sollten nach meiner Überzeugung für die Rechte des Einzelnen ebenso nachdrücklich eintreten wie für die Rechte von Staaten. Mir war klar, dass nach Bosnien und Ruanda viele die UNO nach ihrer Fähigkeit beurteilten, gegen grobe Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzugehen.
Ich signalisierte diese Haltung schon früh, auf einer NATO -Konferenz im Juni 1998, auf der über Bosnien als Testfall für die kollektive Sicherheit im nächsten Jahrhundert diskutiert wurde. Traditionell tritt der UN -Generalsekretär bei Treffen von Militärbündnissen auf, um sich – vor allen anderen Werten – für die friedliche Lösung von Streitigkeiten einzusetzen. Bei dieser Gelegenheit drängte ich zwar auch auf intensivere diplomatische Anstrengungen, allerdings vor dem Hintergrund einer glaubwürdigen Gewaltandrohung. Darüber hinaus versuchte ich die NATO -Vertreter von der Dringlichkeit eines nachdrücklichen Handelns zu überzeugen. Unter Hinweis auf die Erfahrungen in Bosnien forderte ich sie auf, die Zukunft der kollektiven Sicherheit wirkungsvoll und auf rechtmäßige Weise zu sichern. Das eine ohne das andere, erklärte ich, reiche nicht aus. Das hatten wir bereits erfahren und sollten es im Irak erneut erfahren.
»Glaubwürdiger Zwang ohne Legitimität«, fuhr ich fort, »mag rasche Resultate zeitigen, wird aber keine langfristige internationale Unterstützung erhalten. Legitimierter Zwang ohne Glaubwürdigkeit mag universale Unterstützung finden, wird aber nicht in der Lage sein, elementare Bestandteile seines Mandats zu verwirklichen.« Alles Gerede darüber, dass man die Lehren über die Glaubwürdigkeit, Legitimität und Moralität von Interventionen gelernt habe, sei jedoch ohne ihre praktische, nachdrückliche Anwendung dort, wo Grauen drohe, ein bloßes Lippenbekenntnis. Das Kosovo, kam ich auf den Punkt, befinde sich in dieser Gefahr. Diesmal könne man »über die angewandten Mittel und die angestrebten Ziele nicht überrascht« sein, betonte ich und lobte explizit die Entschlossenheit der NATO -Regierungen, eine weitere Eskalation der Kämpfe zu verhindern. Ich schloss meine Ausführungen mit einer direkteren Aufforderung zur Gewaltanwendung, als ich sie in meiner Amtszeit als Generalsekretär je geäußert habe: »Wir sprechen all
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