Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
das Wüten der serbischen Truppen im Kosovo weiterhin ungehindert zugelassen hätte.
Für mich verkomplizierte sich die Situation zusätzlich dadurch, dass ich Generalsekretär der Vereinten Nationen war und in dieser Funktion mitansehen musste, dass die NATO handelte, ohne die Billigung des Sicherheitsrats erbeten zu haben. Die Charta der Vereinten Nationen ist in dieser Hinsicht unmissverständlich: Außer im Fall der Selbstverteidigung muss jede Gewaltanwendung, sofern sie in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht geschehen soll, vom Sicherheitsrat abgesegnet werden. Ebenso klar war mir jedoch, dass Miloševi ć der Weltgemeinschaft keine andere Wahl gelassen hatte und dass keine ihrer Versicherungen, niemals ein neues Bosnien zuzulassen, noch glaubwürdig wäre, wenn man ihm gestattet hätte, seine Kampagne der »ethnischen Säuberung« gegen ein weiteres Balkanvolk fortzuführen.
Da die Vereinten Nationen vor Ort weder durch friedenssichernde noch durch diplomatische Kräfte vertreten waren, hatte ich während der gesamten Kosovokrise meine Anstrengungen darauf konzentriert, klarzustellen, welche Herausforderung sie für die Weltgemeinschaft darstellte. Wenn wir einen Konflikt vermeiden wollten, würde Miloševi ć begreifen müssen, dass die Vereinten Nationen seinen Krieg diesmal als den bewussten Aggressionsakt erkannten, der er war, und dass ihm keine andere Wahl blieb, als den Forderungen der Weltgemeinschaft nachzukommen. Da die NATO begonnen hatte, diese Forderungen mit Gewalt durchzusetzen, flammte die Debatte unter meinen Beratern wieder auf.
Die Hauptabteilung Politische Angelegenheiten entwarf eine Erklärung für mich, in der die vorrangige Verantwortung des Sicherheitsrats für die Bewahrung von Frieden und Sicherheit im Mittelpunkt stand und mein Bedauern darüber ausgedrückt wurde, dass ohne Zustimmung des Sicherheitsrats Gewalt angewendet wurde. Bei einigen Mitarbeitern meines Büros stieß der Entwurf auf grundsätzliche Kritik. Wenn ich jetzt lediglich die Anwendung von Gewalt bedauerte, wäre es nach ihrer Ansicht ein Verrat an allem, was ich in den vorangegangenen Monaten gesagt hatte – zum einen über die Notwendigkeit, Miloševi ć zur Verantwortung zu ziehen, und zum anderen darüber, dass die Vereinten Nationen für Zivilisten Partei ergreifen müssten, die von der eigenen Regierung verfolgt wurden. Sie änderten die Erklärung schließlich nach meinen Anweisungen so ab, dass eingangs festgestellt wurde, die Schuld am Rückgriff auf militärische Gewalt trage die jugoslawische Regierung:
»Während des letzten Jahres habe ich bei vielen Gelegenheiten an die jugoslawische Regierung und die kosovarischen Albaner appelliert, den Frieden über den Krieg, den Kompromiss über den Konflikt zu stellen. Ich bedaure zutiefst, dass die jugoslawische Regierung trotz aller von der Weltgemeinschaft unternommenen Anstrengungen bei ihrer Ablehnung einer politischen Einigung, die das Blutvergießen im Kosovo beendet und einen Frieden für die dortige Bevölkerung gesichert hätte, geblieben ist. Es ist in der Tat tragisch, dass die Diplomatie gescheitert ist, aber es gibt Zeiten, in denen die Anwendung von Gewalt beim Streben nach Frieden legitim sein kann.«
Die Erklärung schloss mit der Aufforderung, den Sicherheitsrat in jede Entscheidung über den Einsatz von Gewalt einzubeziehen. Als Generalsekretär musste ich dieses Prinzip – das immerhin für nichts Geringeres als die Weltordnung von grundlegender Bedeutung war – selbst dann unterstreichen, wenn es unter anomalen Umständen aus moralischer Notwendigkeit heraus hintangesetzt wurde. »Wenn nicht Sie für die Charta einstehen, wer dann?«, hatte Kieran Prendergast, mein politischer Chefberater und Leiter der Hauptabteilung Politische Angelegenheiten, rhetorisch gefragt.
Einen Tag nach dem Beginn der Luftangriffe lautete die Schlagzeile der New York Times : »Generalsekretär billigt indirekt die Luftangriffe« – zur großen Erleichterung der NATO -Staaten und zum Ärger der Russen. Aber obwohl ich von der Notwendigkeit des Gewalteinsatzes überzeugt war, hatte ich in meiner Reaktion auf die Bombenangriffe den NATO -Staaten gegenüber auch den Wert und das rechtliche Erfordernis einer Autorisierung durch den Sicherheitsrat betont und so die aktuelle Situation zu einer krassen Ausnahme erklärt. Es war ein heikler – und in vieler Hinsicht unbefriedigender – Kompromiss. Aber er spiegelte die Realität eines internationalen Systems
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