Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
befürchtet und erwartet hatten, wurde die Kosovo-Verifizierungsmission zum ohnmächtigen Zeugen einer eskalierenden serbischen Kampagne, die Mitte Januar in dem Massaker an 45 Männern, Frauen und Kindern in dem Dorf Ra č ak kulminierte. Während sich die Gewalttätigkeiten und Kämpfe weiter verschärften, wurden in den folgenden zwei Monaten in Form von Gesprächen im französischen Rambouillet neue Verhandlungen über eine Beilegung des Konflikts geführt. Die Kosovaren ließen sich zur Unterzeichnung eines Abkommens überreden, das eine weitgehende Autonomie des Kosovo innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien vorsah. Die Serben verweigerten jedoch die Unterschrift und blieben ihrem aus Aggression und Fehleinschätzung bestehenden Verhaltensmuster bis zum Ende treu.
Während der gesamten Krise hatte ich in engem Kontakt mit Javier Solana gestanden, dem klugen, scharfsichtigen spanischen NATO -Generalsekretär, der eine tiefe Abneigung gegen den Krieg mit der Entschlossenheit eines stolzen Europäers verband und der auf keinen Fall zulassen wollte, dass Miloševi ć dem Friedenswillen des Kontinents und den Menschenrechten erneut Hohn lachte. Am 17. März 1999 sprachen wir am Telefon darüber, dass offenbar niemand zu Miloševi ć durchzudringen vermochte – weder seine russischen Verbündeten noch Holbrooke, mit dem er die Beendigung des Bosnienkrieges ausgehandelt hatte.
Als die OSZE -Beobachter aus dem Kosovo abgezogen wurden, war klar, dass der Augenblick der Wahrheit gekommen war. Am Abend des 23. März rief Solana mich an, um mir mitzuteilen, dass Holbrooke mit »sehr schlechten Nachrichten« aus Belgrad ins NATO -Hauptquartier in Brüssel zurückkehren werde und er, Solana, den Oberbefehlshaber des Bündnisses in Europa ermächtigen werde, umgehend eine militärische Operation zu starten. Mit anderen Worten, eine Militäroperation der NATO würde bald beginnen. Da Russland im Sicherheitsrat jede Resolution mit einem Mandat für einen Gewalteinsatz verhindern würde, bedeutete dies, dass die NATO gegen den Willen des Rats handeln würde. Aber etwas musste geschehen. Ich teilte Solanas Ansicht, dass Miloševi ć den Kontakt zur Realität verloren hatte und dass dies wieder einmal zu einem Krieg auf dem Balkan führte.
Am nächsten Morgen rief mich Madeleine Albright an, um mir zu versichern, dass die NATO keine andere Wahl habe, als zu handeln. Den Tonfall, den sie dabei anschlug, war ich mittlerweile von ihr gewohnt: Sie war zwar eine Freundin und Verbündete, hatte aber nie ganz verstanden, dass ich, obwohl die Vereinigten Staaten meine Kandidatur für den Posten des Generalsekretärs unterstützt hatten, eine unabhängige, den Grundsätzen der UN -Charta verpflichtete Haltung einnehmen und den Wünschen aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gegenüber ein offenes Ohr haben musste.
Ich sagte ihr, ich würde als Reaktion auf das militärische Vorgehen der NATO eine Erklärung herausgeben, in der ich darauf hinweisen würde, dass die Serben es versäumt hätten, die Forderungen der Weltgemeinschaft zu erfüllen. Aber ich würde auch betonen, dass es »wünschenswert« gewesen wäre, wenn die Aktion vom Sicherheitsrat autorisiert worden wäre. Auf meine Bemerkung, der Sicherheitsrat sollte stets einbezogen werden, wenn Staaten die Anwendung von Gewalt beschlossen, entgegnete sie rundheraus: »Dem stimmen wir nicht zu.« Mir ging durch den Kopf, dass ihre Rechtsanwälte im Außenministerium möglicherweise anderer Meinung waren, aber ich erinnerte mich auch an eine ähnliche Äußerung, die sie gegenüber Robin Cook gemacht hatte: »Sie sollten sich neue Anwälte suchen.« Am Ende des Telefongesprächs gestand sie gleichwohl ein: »Sie sind Generalsekretär der UNO , und ich bin Außenministerin der Vereinigten Staaten – so ist es nun einmal. Aber wenn wir im Sicherheitsrat darüber hätten abstimmen lassen, hätten die Russen ihr Veto eingelegt, und die Menschen würden weiter sterben.« Ich sprach es nicht aus, aber ich pflichtete ihr bei.
Noch am selben Tag begann die NATO Luftangriffe zu fliegen, um die serbischen Truppen aus dem Kosovo zu verjagen und ihrer gegen die Zivilbevölkerung der Provinz gerichteten Mord- und Vertreibungskampagne ein Ende zu setzen. In meinen Augen war dies eine Tragödie – wie jeder Rückgriff auf kriegerische Mittel. Wer anderer Meinung ist, hat noch nie gesehen, was sie anrichten. Aber mir war auch bewusst, dass es ein größeres Übel gewesen wäre, wenn man
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