Ein Leben unter Toten
über einem Hügelrand in die Höhe, und das Gebäude wirkte auf sie, als wären mehrere kleine Häuser mit spitzen oder wenigen spitzen Dächern nebeneinander und Wand an Wand gebaut worden. Schornsteine stachen wie abgekappte, dunkle Arme in den Himmel, und die blitzende Fernsehantenne empfand Lady Sarah zwischen den Giebeln und den kleinen Aufbauten als sehr störend. Sie paßte einfach nicht zu dem alten Gemäuer.
Auch die Fassade präsentierte sich nicht glatt. Erker, kleine Vorbauten, manche sogar halbrund, Stuck und Figuren bildeten ein seltsames Durcheinander, das sich epochenmäßig überhaupt nicht einordnen ließ. Hier schien jeder herumgebaut und seiner Fantasie freien Lauf gelassen zu haben.
Das Haus stand auf den Klippen. Es wurde House of Silence genannt. Irgendwie paßte der Name auch, denn bis auf die Brandung war es ruhig. Und etwas störte Mrs. Goldwyn ganz besonders. Es war die Atmosphäre, die sie bereits auf dem Wege zu diesem Gebäude spürte. Da war nichts von einer Freundlichkeit zu spüren. Sie konnte die Ausstrahlung schon jetzt spüren, und sie hatte für sie etwas Bedrohliches an sich, als würden hinter der Fassade grauenhafte Dinge lauern.
Die Horror-Oma dachte an den alten Fluch, von dem der Fahrer erzählt hatte. Und an einen Mann, den jemand der große Vater genannt hatte. Wer war diese Person? Lebte sie vielleicht noch, oder war sie längst irgendwo verschollen?
Jedenfalls eine schillernde, geheimnisvolle Persönlichkeit, die möglicherweise gar nicht existierte, aber das wollte Lady Sarah alles noch herausfinden.
Während dieser Überlegungen ging sie weiter auf das große Gebäude zu, ließ die Fassade nicht aus den Augen und schaute sich auch die Fenster an, die wie gläserne Gucklöcher innerhalb des dunklen Mauerwerks wirkten. Unheimliche Augen, die auch den Weg vor dem Haus unter Kontrolle halten konnten.
Normalerweise hätte sich Sarah Goldwyn darüber gewundert, daß niemand zur Begrüßung erschien. Diesmal jedoch dachte sie anders darüber, denn sie wußte, daß die anderen zur Beerdigung waren. Und da wollte sie sich selbst einladen.
Sie wußte auch, daß der Friedhof direkt am Haus lag konnte ihn allerdings noch nicht sehen und mußte erst einige Schritte laufen, bevor sie die Bäume entdeckte, die mit ihren Asten und Zweigen ein grünes Dach gebildet hatten, unter dem der Friedhof lag.
Lady Sarah blieb stehen.
Es war ein tristes Bild, das sich ihren Augen bot. Die versammelten Frauen bildeten eine Gruppe, die wie eine schwarze Insel auf dem kleinen Friedhof wirkte. Sie standen sehr dicht zusammen und nahmen der Horror-Oma den Blick auf das Grab.
Lady Sarah schluckte. Sie spürte einen Kloß im Magen, wenn sie sich vorstellte, wer jetzt in die kühle Erde hinabgesenkt wurde. Zwar hatte sie in den letzten Jahren keinen Kontakt mehr zu Diana Coleman gehabt, aber sie fühlte dennoch die Verbundenheit mit dieser Frau aus noch jüngeren Jahren.
Sie hatte die Reisetasche abgesetzt. Obwohl es nicht allzu warm war, klebte der Schweiß auf ihrer Haut, denn der Weg hatte sie doch angestrengt.
Ans Ausruhen war nicht zu denken. Lady Sarah dachte an ihre Aufgabe, sie nahm die abgestellte Tasche wieder hoch und änderte ihre ursprüglich eingeschlagene Richtung.
Jetzt schritt sie auf direktem Weg zum Friedhof.
Niemand sah die einsame Gestalt kommen. Die Blicke der Frauen galten einzig und allein dem Sarg, und sie lauschten Blanche Everetts Rede, von denen Bruchstücke auch bis zu Lady Sarah geweht wurden.
»Du hast dein Leben hinter dir, meine liebe Diana. Aber nicht alles, was in der Erde liegt, ist tot. Wir sollten uns endlich von diesem Gedanken befreien, daß mit dem Tod die Sache gelaufen ist. Nein, es kommt noch etwas hinterher. Wir haben dich nicht vergessen, Diana Coleman, zeige uns, daß auch du uns nicht vergessen hast. Beweise es durch deine Taten und dein Andenken…«
Je mehr sich Sarah Goldwyn dem Friedhof näherte, um so besser konnte sie die Worte verstehen. Dabei wunderte sie sich, denn sie hatte auf einer Beerdigung noch niemals solche Sätze gehört. Zudem vermißte sie einen Priester, und sie sah auch keine Kreuze auf dem Friedhof, sondern nur graue, manchmal schief im Erdboden steckende Steine, die Mahnmale der Toten an die Lebenden.
Lady Sarah schlug einen kleinen Bogen. Um auf direktem Wege an die Trauergemeinde heranzukommen, hätte sie über Grabsteine klettern müssen, das war ihr zu mühselig.
Noch immer hatte man sie nicht gesehen. Einige
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