Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
mitzubringen, und ich wollte meine Karten mitbringen. Wir legten diese Karten mit all den roten »Geheim«- und »Streng geheim«-Stempeln und den Aufstellungsorten der Raketen auf einen großen Tisch. Es wurde klar, dass meine Sorgen wegen der neuen russischen Mittelstreckenraketen berechtigt waren. Da wischte er seine Karten vom Tisch und sagte: »Was für ein Mist!« Er meinte es wirklich so. Er war tief bewegt. Ein Jahr später ist er gestorben. Am Ende seines Lebens hatte er die Tragik unserer gegenseitigen Rüstungen verstanden.
LEE Die Russen haben einen hohen Preis dafür bezahlt. Die Bevölkerung nimmt ab, der Alkoholismus nimmt zu, es gibt eine sehr niedrige Geburtenrate …
SCHMIDT Ihre Geburtenrate ist fast so niedrig wie unsere, rund 1,5.
Auf seiner China-Reise 1975 lernte Helmut Schmidt auch den damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Deng Xiaoping kennen, der drei Jahre später die Reformpolitik in die Wege leitete.
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LEE In Japan liegt die Geburtenrate bei nur knapp über 1; statt zwei Japanern wird es in Zukunft also nur einen geben. Bei uns ist die Situation genauso schlecht: Unsere Rate liegt bei 1,08. Wir können nichts dagegen tun, außer die Einwanderung zu erhöhen. Die Frauen sind gebildet. Sie können genauso viel und manchmal mehr als Männer verdienen. Sie können ein bequemes Leben führen und sehen keinen Grund, zu heiraten, da sie nicht von den Männern abhängig sind.
SCHMIDT Aber das geschieht in einer Welt, deren Bevölkerung sich im 20. Jahrhundert vervierfacht hat und im 21. sich möglicherweise noch einmal verdoppeln wird.
LEE Ich bin nicht sicher. Sie verdoppelt sich in bestimmten Ländern. Je höher entwickelt ein Land ist, desto geringer ist das Bevölkerungswachstum und umso größer der Rückgang.
SCHMIDT Ich spreche von den Bevölkerungszahlen für die Welt insgesamt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es rund 1,5 Milliarden Menschen auf der Erde, heute sind es sieben Milliarden, und in der Mitte des Jahrhunderts werden es annähernd acht oder neun Milliarden sein, sechsmal so viele wie im Jahr 1900. Damals lebten die Menschen in Singapur in Hütten nebeneinander, während sie heute in zwanzigstöckigen Häusern übereinander leben. Die Menschheit lebt heute in zunehmendem Maß in Städten. Ob Sie nach Peking, Shanghai oder Guangzhou gehen, nach Kairo, São Paulo oder Mexico City, es ist überall auf der Welt das Gleiche. Die Städte werden immer größer, und das heißt, man wird es in Zukunft mit Massen von Menschen zu tun haben, die geballt an einem Ort leben und deshalb psychologisch leicht zu beeinflussen sind.
LEE Die Chinesen planen in Zentralchina vier Städte für jeweils 40 Millionen Menschen. Weil die Verlagerung vom Land in die Städte unumkehrbar ist, die chinesische Führung aber nicht will, dass alle an die Küste strömen, weil sie sich dort ein besseres Leben erhoffen.
SCHMIDT Aber diese Bevölkerungsexplosion in den letzten rund hundert Jahren …
Schmidt und Deng beim Bankett; zum Nachtisch gab es Lotoskerne mit Lilienschuppen.
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LEE Nun, ich sehe die Gefahr heute eher im Bevölkerungsschwund. Das bereitet mir Sorgen. Da sind auf der einen Seite die entwickelten Länder mit einer Technologie, die einen hohen Lebensstandard bietet, und auf der anderen Seite Massen von Menschen, die sie um diesen Lebensstandard beneiden und legal oder illegal an ihm teilhaben wollen, aber nicht die Fertigkeiten und das Wissen besitzen, um die Wirtschaft zu führen und die Technologie zu meistern. In den entwickelten Ländern sind Frauen gebildet und haben Arbeit; sie haben keine Veranlassung, erstens zu heiraten und zweitens, nachdem sie geheiratet haben, zu viele Kinder zu bekommen, die sie davon abhalten, zu reisen und das Leben zu genießen. Wenn sie Kinder haben, dann meistens nur eins.
SCHMIDT Das trifft auf große Teile Europas zu, auch auf Russland, auf Japan, auf Singapur. Es trifft nicht zu für den Rest der Welt.
LEE Ja, und folglich wird es zu Grenzproblemen kommen. Deshalb glaube ich, dass Schengen nicht haltbar ist, weil die Menschen, Nordafrikaner und Schwarzafrikaner, das Mittelmeer überqueren, um nach Europa zu gelangen.
SCHMIDT Es ist ein Weg in unvermeidliche Kriege.
LEE Ja, und der einzige Weg, solche Kriege aufzuhalten, besteht darin, die Frauen in Afrika auszubilden, damit sie eine Arbeit finden und nicht glauben …
SCHMIDT Was zwei Generationen dauern könnte.
LEE Ja, aber immer noch
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