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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Vergangenheit nach, dann werden wir scheitern. Und nachdem sie sich aus eigener Kraft von ihren Ländern losgerissen hatten, um nach Singapur zu gehen, waren sie entschlossen, einen Erfolg daraus zu machen. Dies war die Basis, die meine Politik ermöglicht hat.
    MATTHIAS NASS Was hat Sie dazu bewogen, in die Politik zu gehen? Waren es die Erfahrungen mit dem britischen Kolonialismus?
    LEE Der britische Kolonialismus war in vieler Hinsicht gemäßigt. Man hat uns eine Bildung zukommen lassen. So erhielt ich meine Bildung von den Briten und bin nach Cambridge gegangen. Sie wussten, dass sie eines Tages die Macht würden abgeben müssen. Deshalb wollten sie eine Schicht heranbilden, eine Elite, die ihnen freundlich gesinnt war. Es gibt daher keine allzu große Bitterkeit und Wut gegen sie, denn sie wussten, dass sie das Land nicht zusammenhalten konnten. Nach 1947, als Indien ihnen verlorenging, verschwanden auch die anderen Kolonien eine nach der anderen – Ceylon, Burma, Malaysia und schließlich Singapur. Wir hatten also den Vorteil, eine Kolonialmacht zu haben, die erkannte, dass sie sich im Niedergang befand und verlieren musste, und die deshalb würdevoll verlor, indem sie sich zurückzog. Wir mussten also nicht besonders hart kämpfen; wir brauchten nur gegen die Tür zu drücken, und schon öffnete sie sich.
    SCHMIDT Dachten Sie damals schon über asiatische Werte nach und sprachen darüber? Oder haben Sie sich erst später, im Lauf der Jahrzehnte dieser Seite zugewendet?
    LEE Nun, ich glaube, solche Werte waren von Anfang an da.
    SCHMIDT Ich bin beinahe überzeugt, dass sie angeboren sind, dass sie Ihnen aber nicht bewusst waren.
    LEE Gut möglich. Zum Beispiel nutzte ich, als ich die Menschen mobilisieren musste, den Gemeinschaftsgeist, der die Gemeinschaft über den Einzelnen stellt. Und ich brachte sie dazu, mir zu folgen, indem ich sagte: Schaut, das ist gut für die Gemeinschaft. Der Einzelne wird gewisse Rechte aufgeben müssen, aber der Gesellschaft insgesamt wird es nutzen. Hätte ich eine starre Gesellschaft mit langer Geschichte und erbitterten Feindschaften vorgefunden, wäre es nicht möglich gewesen.
    SCHMIDT Wann sind Sie zum Konfuzianer geworden?
    LEE Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Ich glaube, ich wurde von der Familie als Konfuzianer erzogen.
    SCHMIDT Und hat der Konfuzianismus Sie noch geleitet, als Sie in Cambridge waren und Choo kennenlernten?
    LEE Ja. Ich würde sagen, dass er mir angeboren war. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn du dich um dich selbst kümmerst, wird es deiner Familie gutgehen; wenn du dem Kaiser treu bist, wird es dem Land gutgehen. Zuerst muss man sich also um sich selbst kümmern und ein Gentleman sein. Das ist die grundlegende Forderung. Jeder Einzelne sollte bestrebt sein, ein Gentleman zu sein.

Nach den Gesprächen mit der chinesischen Führung stand der Besuch der Verbotenen Stadt auf dem Programm; rechts Loki Schmidt.
    © Archiv Helmut Schmidt

SCHMIDT Ich wurde als Christ großgezogen – und glaube am Ende an nichts mehr.
    LEE Nun, darin unterscheiden sich die Europäer von den Amerikanern. Amerikaner glauben noch, dass Schöpfung Schöpfung durch Gott ist und dass Evolution und Darwinismus Unsinn sind.
    SCHMIDT Furchtbar! Welche Naivität!
    LEE Ich denke, dass die Europäer als Ganzes infolge der beiden Weltkriege sehr viel rationaler geworden sind. Sie haben sinnlose Kämpfe, Feindschaften, großartige Hoffnungen und grandiose Pläne durchlebt, die allesamt nichts als Tragödien mit sich gebracht haben. Napoleon hat versucht, Europa zu vereinigen, und Hitler hat es versucht.
    SCHMIDT Die Völker vom Nordkap bis Neapel und von Istanbul bis Lissabon sind seit fast zweitausend Jahren alle mehr oder weniger im Christentum aufgewachsen. Andererseits haben sie in der praktischen Politik, trotz ihrer christlichen Ideologie, einen Krieg nach dem anderen geführt. Sie haben das Gegenteil dessen getan, was man sie gelehrt hat und was sie brav auswendig gelernt haben. Das ist lachhaft.
    LEE Nun, es war eine Epoche, in der einige stärkere europäische Länder immer wieder versucht haben, Europa zu vereinigen.
    SCHMIDT Nein, Europa zu erobern. Sie sind viel zu freundlich!
    LEE Angenommen, Napoleon hätte gesiegt, dann wäre Französisch die Sprache Europas geworden. Wenn Hitler gesiegt hätte, wäre heute Deutsch die Sprache Europas. Das war eines der Ziele. Grob gesagt, ging es darum, Europa zu erobern und ein Reich zu schaffen. Ideologisch verbrämt

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