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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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wiederbeleben sollte.
    SCHMIDT Und Kennan spielte eine Rolle.
    LEE George Kennan spielte eine wichtige Rolle, weil er die Bedrohung durch die Sowjetunion erkannte.
    SCHMIDT Ich war in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mehrmals im Jahr in den Vereinigten Staaten und versuchte die Beweggründe für das Verhalten amerikanischer Generäle herauszufinden. Ich wollte die militärische Strategie der Vereinigten Staaten verstehen. Dabei stellte ich fest, dass eine interne Diskussion geführt wurde, die man teilweise ernst nehmen musste und teilweise nicht. Es gelang mir, in den inneren Kreis der ernst zu nehmenden Leute vorzudringen und Zugang zu vielen interessanten Gesprächspartnern zu finden. Das brachte mich Anfang der sechziger Jahre dazu, ein Buch mit dem Titel Defence or Retaliation zu schreiben, der deutsche Titel war ähnlich knapp: Verteidigung oder Vergeltung. Wir entschieden uns für Verteidigung und lehnten Vergeltung ab. Damals, in den fünfziger und sechziger Jahren, hatte ich den Eindruck, dass es die Ostküstenelite war, die das Denken und Handeln der USA weitgehend bestimmte. Deshalb beschäftigte es mich sehr, als sie Texanern und Kaliforniern Platz machte, Ronald Reagan, Jimmy Carter, George W. Bush usw.
    LEE (lacht) Sie haben schlechte Beispiele gewählt. Aber meiner Meinung nach sind die USA noch immer eine dynamische Gesellschaft.
    SCHMIDT Dynamisch?
    LEE Ja, eine Gesellschaft von Einwanderern.
    SCHMIDT In diesem Punkt stimme ich Ihnen voll zu.
    LEE Sie ist jung, sie hat eine kurze Geschichte, sie ist nicht durch alte Fehden belastet, und sie lebt auf einem großen Kontinent – voller Büffel, die sie inzwischen allerdings abgeschlachtet hat. Ich halte die USA für eine dynamische Gesellschaft voller Ideen. Denken Sie nur an iPhone und iPad, an das Internet, an Microsoft.
    SCHMIDT Das kommt alles mehr oder weniger aus Stanford, aus Palo Alto.
    LEE Das stimmt. Der Erfolg liegt zu einem großen Teil auch an der Sprache und daran, dass man Talente aus dem Ausland willkommen heißt. Englisch ist in allen Ländern der Welt die erste oder zweite Sprache. Deshalb wird jeder Geistesblitz, ob nun aus Europa, China, Korea, Japan, Indien oder Südostasien, letztlich in Amerika einschlagen.
    SCHMIDT Da stimme ich Ihnen zu. Andererseits bedaure ich die Tatsache, dass die Kontinuität der amerikanischen Strategie verlorengegangen ist.
    LEE Nun, das liegt daran, dass die Amerikaner eine kurze Geschichte haben und ungeduldig sind. Sie wollen rasche Ergebnisse.
    SCHMIDT Sie wollen rasche Ergebnisse, das ist wahr. Und auch die Wähler wollen rasche Ergebnisse. Jede Wählerschaft will rasche Ergebnisse, sogar die Wähler in Singapur.
    LEE Ja, aber man muss sie zügeln. Manche Ziele sind in ein oder zwei Wahlperioden nicht zu erreichen, sondern erst in einer Generation. Aber man muss diese Ziele verfolgen.
    SCHMIDT Wenn ich die Haltung der europäischen Politiker insgesamt betrachte, so gibt es bei uns nicht wenige, die es für klug und wirksam halten, über große Visionen zu reden, von denen sie eigentlich wissen müssten, dass für deren Verwirklichung drei Generationen nötig sind. In allen großen Wahlkämpfen in Europa – erst in Frankreich, demnächst in Deutschland – geht es auch um Visionen, die niemals Wirklichkeit werden.
    LEE Ja, viele Politiker malen Luftschlösser.
    SCHMIDT Was Sie in diesem Land geleistet haben, Harry, waren keine Luftschlösser.
    LEE Nun, ich hatte es mit einer Einwanderergesellschaft ohne alte Gegensätze und Feindschaften zu tun, das war ein Vorteil. Ich gab ihr mit dem Englischen eine gemeinsame Plattform und sorgte für einen Wettbewerb unter Gleichen, bei dem jeder nach seinen Verdiensten befördert wird, unabhängig von Rasse, Sprache, Kultur. Das schuf eine nationale Solidarität.
    SCHMIDT Wäre das auch ohne Lee Kuan Yew geschehen?
    LEE Es hätte auch jemand anderes tun können, aber diese Bedingungen waren eine Grundvoraussetzung.
    SCHMIDT Keiner von uns vier, weder George Shultz noch Henry Kissinger noch ich selbst, war in einer vergleichbaren Position.
    LEE Sie hatten mit vielen Menschen zu tun, die durch eine lange Geschichte geformt wurden.
    SCHMIDT Ja. Sie nicht?
    LEE Sie müssen aber bedenken, dass viele von ihnen ihre Geschichte in China, Indonesien oder Indien hatten. Also habe ich ihnen gesagt: Hört zu, vergesst das. Entweder ihr sorgt dafür, dass dieser Ort funktioniert, indem ihr euch kümmert und für die Zukunft arbeitet, oder ihr hängt weiterhin der

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