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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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hieß es, man wolle Europa vereinigen.
    SCHMIDT Die letzte Chance dafür gab es vor 1200 Jahren unter Karl dem Großen. Heute ist Europa stärker geteilt als vor zehn oder zwanzig Jahren.

Nach der Aufführung der revolutionären Pekingoper »Der Azaleenberg«.
    © Bundesbildstelle

LEE Ich glaube, die Integration wurde durch Halbherzigkeit blockiert, und das hat zur Desillusionierung geführt, angefangen mit Griechenland. Man wird entweder zu einer vollständigen Integration kommen müssen mit einer Europäischen Zentralbank und einem europäischen Finanzminister, der alle Staatshaushalte billigen muss, oder es wird 17 Länder mit 17 Finanzministern geben, die alle eigene Wege gehen, was mit dem Euro als gemeinsamer Währung aber unmöglich ist. Wie soll man aus dem Euro herauskommen? Ich weiß es nicht, weil ich denke, dass es ein großes Durcheinander verursachen würde.
    SCHMIDT Ich stimme Ihnen zu. Es ist zwar möglich, den Euro zu bewahren, aber die Organe der EU sind dafür wenig geeignet. Andererseits wäre es auch nicht möglich gewesen, mit einem umfassenden Programm anzufangen. Man musste schrittweise vorgehen. Das ist die große Lehre von Jean Monnet, der zu einer schrittweisen Integration riet, eine Generation nach der anderen. Dahinter steckt im Kern die Lehre von Karl Popper, von dem Sie vielleicht schon gehört haben: Es gibt keinen anderen Weg, als schrittweise vorzugehen. Aber wie baut man schrittweise ein europäisches Finanzministerium auf?
    LEE (lacht) Ich denke, das wird nicht gehen. Das Trennende ist zu stark. Jede Nation hat ihre eigene Geschichte, ist stolz auf ihre eigene Literatur, ihre eigene Sprache und Kultur. Angenommen, die Europäer sagen: Okay, vergessen wir Rousseau, vergessen wir all die großen Ideen von einer liberalen Gesellschaft und beschließen, ein einziges europäisches Volk zu werden, dann brauchen wir zuerst eine gemeinsame Sprache. Das Vernünftigste wäre, Englisch zur allgemeinen Zweitsprache zu machen. Wenn sich Franzosen, Deutsche und Tschechen treffen, würden sie also auf Englisch miteinander reden. Sie würden ihr Deutsch, Tschechisch und Französisch behalten, aber die eine Sprache würde sie langsam zusammenschweißen. Doch die Franzosen würden dem nie zustimmen. Jeder hält auch seine Literatur für sakrosankt, für etwas, das man nicht aufgeben kann. Während die Amerikaner, als sie auf den neuen Kontinent gingen, eine neue Literatur in Englisch schufen, mit großen Schriftstellern und Gelehrten. Europa ist von seiner Vergangenheit, von seiner Geschichte gefangen.
    SCHMIDT Europa ist von seiner Geschichte gefangen. Aber ich bin weniger pessimistisch, als Sie es zu sein scheinen. Als ich aus dem Krieg heimkehrte, war ich der Überzeugung, dass die Europäer sich zusammentun und eine Einheit bilden müssen. Das war eine illusionäre Vorstellung, aber ich war jung, 26 Jahre alt. 1948, als ich 30 wurde, begegnete ich zum ersten Mal Jean Monnet, der zusammen mit Jack McCloy von Washington aus die alliierte Kriegführung beeinflusst hatte. Monnet war sehr überzeugend, als er erklärte, dass man schrittweise vorgehen, einen Schritt vor den anderen setzen müsse und dass man das Ganze nicht von einem Moment auf den nächsten schaffen könne. Ich habe an diese schrittweise Vorgehensweise geglaubt, bis zu der großen Wende von 1989/90, als wir alle plötzlich von einer Embarass de Richesse überwältigt wurden. Plötzlich stand es jedem frei, der Europäischen Union beizutreten.
    LEE Das war ein Fehler. Es hätte ein Kerneuropa sein müssen.
    SCHMIDT Ja, es war ein Fehler. Aber wir waren nicht in der Lage, den Osteuropäern zu sagen: Es ist schön, dass ihr jetzt frei seid, aber wir wollen euch nicht.
    LEE Wartet ab, werdet assoziierte Mitglieder, aber am Ende entscheiden wir. Der Kern hätte sich erst konsolidieren müssen.
    SCHMIDT Richtig. Als die europäische Integration durch Jean Monnet begann, waren wir sechs Länder: Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, die Niederlande und das kleine Luxemburg – sechs. Das war funktionsfähig. Es traten zwar einige große Schwierigkeiten auf, beispielsweise Mitte der sechziger Jahre, als de Gaulle seinen Ministern durch die sogenannte Politik des »leeren französischen Stuhls« eine Zeitlang verbot, an Ratssitzungen teilzunehmen. Aber wir haben diese Schwierigkeiten überwunden und sind über zwanzig Jahre lang zusammengeblieben – sechs Staaten, von 1952 bis Anfang der siebziger Jahre. Die Briten bemühten sich um

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