Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
wiedervereinigt wurden, hat dies niemand erwartet – niemand außer Maggie Thatcher. In gewissem Maße haben dies auch Mitterrand und Andreotti erwartet, der damalige italienische Ministerpräsident. Das waren historisch gebildete Leute, die erkannten, dass ein vereinigtes Deutschland ein gewisses Gefahrenpotential barg. Deshalb sprachen sie sich gegen die Vereinigung aus. Überwunden wurde ihr Einspruch durch die Amerikaner und den Konsens mit Gorbatschow.
LEE Aber es wäre sowieso geschehen. In dem Augenblick, als die Sowjetunion die Kontrolle verlor, hatte Ostdeutschland keine andere Wahl, als sich Westdeutschland anzuschließen. Die Menschen hatten den Unterschied im Lebensstandard längst vor Augen, sie konnten westdeutsches Fernsehen empfangen, sie wurden nur durch die Mauer gehindert, in den Westen zu gehen. Wie also hätte man sie, nachdem die Mauer gefallen war, aufhalten können? Sie wollten die Wiedervereinigung. Hätten die Westdeutschen sagen können: Nein, wir wollen euch nicht?
SCHMIDT Die Westdeutschen hätten niemals sagen können: Wir wollen euch nicht! Außer einem Mann namens Lafontaine ( LEE lacht). Sie haben seinen Namen offenbar schon einmal in der Zeitung gelesen?
LEE Lafontaine, ja.
SCHMIDT Nein, wir hätten niemals gesagt: Wir wollen euch nicht. Wir wollten sie. Aber dennoch hatten wir keine Ahnung, was es bedeutet, eine Nation von 80 Millionen Menschen zu werden.
LEE Sie mussten allerdings zunächst einen hohen Preis für die Unterstützung der Ostdeutschen zahlen.
SCHMIDT Ja. Und in mancherlei Hinsicht sind wir dabei nicht sehr erfolgreich gewesen. In Bezug auf Sanierung und Ausbau der Infrastruktur ist der Ostteil Deutschlands besser dran als der Westteil, aber diese Infrastruktur wird wirtschaftlich nicht entsprechend genutzt. Die ökonomischen Aktivitäten sind im Westen konzentriert, nicht im Osten. Die großen industriellen Konglomerate sind nicht wiederbelebt worden. Ich erinnere mich an eine Maschinenbaufabrik in Marzahn, einem Außenbezirk von Berlin. Sie stellte Maschinen zur Herstellung von Maschinen her; wir haben sie 1990/91 umgebaut, mit neuen großen Hallen, mit Eisenbahnanschluss und allem versehen, was man für die Herstellung von Maschinen braucht. Sie hatte rund zweitausend Mitarbeiter. Heute sind es noch 170, weil niemand die Maschinen kaufen wollte. Sie waren einfach zu teuer oder nicht gut genug – eine Mischung aus beidem. Und das ist in gewisser Weise typisch für die gesamte Industrie der alten DDR. Als wir die beiden Länder zusammenfügten und dabei einen völlig falschen Umtauschkurs festsetzten – der richtige Kurs wäre drei zu eins gewesen …
LEE Aber Sie haben ihn auf eins zu eins festgesetzt.
SCHMIDT Das war der Hauptfehler, der alle Produkte der ehemaligen DDR unverkäuflich machte. Ich habe das damals kritisiert, war allerdings der Meinung, dass es sich über viele Jahre hinweg angleichen würde. Das ist bis heute noch nicht geschehen, zwanzig Jahre später gibt es immer noch kein Anzeichen dafür. Die Arbeitslosigkeit ist nahezu doppelt so hoch wie in Westdeutschland.
LEE Dass so vieles nicht funktionierte, liegt auch daran, dass die Bevölkerung der ehemaligen DDR durch die zentrale Planung indoktriniert war und die Idee freien Unternehmertums, Wettbewerb und Wachstum der erfolgreichen Unternehmen auf Kosten der weniger erfolgreichen einfach nicht zu ihrer Kultur gehörte. Vierzig Jahre lang wurde ihnen die Ansicht eingeimpft, man könne bestimmte Erfolge vorherbestimmen.
SCHMIDT Es gibt einen Aspekt in der heutigen westdeutschen Industrie, der mir Sorge bereitet: der viel zu hohe Anteil der Automobilindustrie.
LEE Aber es sind gute Autos.
SCHMIDT Erstklassige Autos. Dennoch ist der Anteil zu groß.
LEE (lacht) So viele Mercedes, BMWs und Audis! Deutsche Ingenieurkunst!
SCHMIDT Ingenieurkunst, die darauf beruht, dass man Lehrling war und eine Berufsschule besucht hat, dass man eine dreijährige Lehre absolviert und gleichzeitig eine speziell auf den jeweiligen Beruf ausgerichtete Schule besucht hat. Das ist ein erstklassiger Weg, Facharbeiter auszubilden. Aber weil wir kaum eine IT-Industrie haben, haben wir dafür jetzt keinen Nachwuchs.
LEE Ja, aber Sie können aufholen.
SCHMIDT Um die Informationstechnologie in Deutschland so groß zu machen wie in den Vereinigten Staaten, müssten wir einen Teil der Automobilindustrie umstellen, und die wird das Feld nicht einfach räumen. Obwohl 60 Prozent eines Autos nicht Metall sind, sondern
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