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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Jahrhundert spielen?
    SCHMIDT Das Wort »Rolle« erinnert mich daran, dass es aus der Welt des Theaters stammt. Im Theater spielt man entweder eine Tragödie oder eine Komödie. Wir hatten genügend Tragödien – zwei Weltkriege in einem Jahrhundert –, jetzt ist es Zeit für eine Komödie.
    LEE (lacht) Und wie soll sie heißen?
    SCHMIDT Der Ulk enthält einen wahren Kern. Die Europäer machen sich nämlich zu Narren. Seit fast sechzig Jahren versuchen wir, Europa zu vereinigen, und jetzt befinden wir uns in einer tiefen Krise. Ich bin seit 1948, seit meinem dreißigsten Lebensjahr, von der Notwendigkeit der europäischen Union überzeugt. Ich war von Anfang an von dieser Idee zutiefst überzeugt; mein Lehrer war Jean Monnet. Aber ich muss zugeben, dass ich die Schwierigkeiten, vor allem was die unterschiedlichen nationalen Befindlichkeiten betrifft, enorm unterschätzt habe. Ebenso unterschätzt habe ich die Tatsache, dass man in Europa 35 Sprachen spricht, was bedeutet, dass jedes einzelne Volk seine Identität durch seine eigene Literatur und seine eigene Überlieferung auf jeweils eigene nationale Weise interpretiert. Nehmen wir zum Beispiel Polen und Deutsche. Sie haben über zweihundert Jahre lang Krieg gegeneinander geführt, und jetzt pflegen sie die Erinnerung an diese Kriege, um über diese Geschichte hinwegzukommen. Und es sind nicht die einzigen beiden Völker, die schlechte Erinnerungen aneinander haben. Die Pflege der nationalen Überlieferung ist viel stärker als der Wille der politischen Klasse, Europa zu vereinigen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.
    LEE Alte Völker mit einer langen Geschichte sind stolz auf ihre Siege und hegen Groll wegen ihrer Niederlagen. Das lässt sich nur sehr schwer ausmerzen. Und wie Sie gesagt haben, jedes Volk betrachtet die eigene Sprache als überlegen und hängt an der eigenen Literatur, den eigenen berühmten Dichtern und Schriftstellern, und wird sie nicht aufgeben.
    SCHMIDT Es gibt eine Ausnahme, die Musik. Wir haben eine europäische Musik. Wir haben auch, bis zu einem gewissen Grad, eine europäische Literatur, Hamsun wurde ins Englische oder Deutsche, Dante ins Französische oder Englische übersetzt. Daraus ist in gewisser Weise ein europäischer Literaturkanon entstanden. Ähnliches gilt für die bildenden Künste. Heute bauen wir gemeinsam Flugzeuge, den Airbus. Dennoch kämpfen die beiden führenden Nationen darum, wer den Vorstandsvorsitzenden stellt.
    LEE Der einzige Weg, Europa zusammenzubringen, bestünde darin, die Europäer für eine Generation nach Amerika zu verpflanzen und dann zurückzuholen (beide lachen). Bringt sie nach Amerika und holt sie in der nächsten Generation zurück, dann werden sie Europäer sein.
    MATTHIAS NASS Sie klingen beide recht pessimistisch. Aber was wir in den letzten sechzig Jahren in Europa erlebt haben, ist ein historisches Wunder. Warum sollte dieses Europa nicht in der Lage sein, aus der gegenwärtigen Krise herauszukommen und dabei vielleicht sogar noch stärker zu werden?
    LEE Wegen der beiden Weltkriege ist Europa kriegsmüde, des Ruhms überdrüssig und zufrieden damit, ein ruhiges, behagliches Leben mit guten Sozialleistungen zu führen. Das Problem, dem es jetzt gegenübersteht, ist die Herausforderung durch aufstrebende Mächte wie Indien und China, die billige Waren produzieren und das zufriedene Leben stören. Europa muss sich anpassen, und ich hoffe, es wird sich so anpassen, dass zwischen Erfolgreichen und Erfolglosen weiterhin ein gewisser Ausgleich geschaffen wird. Denn dies hat die Europäer in die Lage versetzt, eine glücklichere Gesellschaft zu sein als die amerikanische. Sie haben keine Unterschicht. Amerika hat eine, und der Preis, den das Land für seine vom Konkurrenzkampf geprägte dynamische Gesellschaft zahlt, sind viele Pleiten. The Winner Takes It All!
    SCHMIDT Es ist irgendwie komisch, dass Sie zwei ältere Herren auffordern, optimistischer zu sein (beide lachen). Es wäre gegen die Natur. Sind Sie optimistisch, Harry?
    LEE Ich würde sagen, die menschliche Natur ändert sich nicht. Was sich verändert hat, sind die Umstände, mit denen wir es heute zu tun haben. Eine Welt, zeitgleiche Kommunikation, einfache Transportmöglichkeiten – man konkurriert also nicht nur mit seinen direkten Nachbarn, sondern der Wettbewerb findet weltweit statt. Obwohl China Tausende Kilometer von Amerika entfernt ist, sind die Amerikaner mit einer Flut von Importen aus China konfrontiert. Und ohne das

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