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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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zweihundert Jahre hatte die Ostküste die Führung; die Möglichkeit zur Wende kam 1803 mit dem Louisiana Purchase, als Thomas Jefferson mit dem Kauf riesiger Gebiete im Mittleren Westen das Gebiet der USA mehr als verdoppelte. Aber selbst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war es noch immer die Ostküstenelite, die den politischen Kurs Amerikas bestimmte; sie arbeitete den Marshallplan aus, sie brachte Leute wie Eisenhower und Kennedy an die Macht. Heutzutage kommen die Präsidenten der Vereinigten Staaten aus dem Süden, aus Texas, aus Alabama, sogar aus Kalifornien, und dort gelten andere Bedingungen als an der Ostküste. Was ich sagen will, ist, dass Amerika sich schrittweise verändern und mit dieser Veränderung friedlicher und weniger aggressiv werden wird.
    LEE Da bin ich anderer Meinung. Dass Amerika sich verändern wird, während sich die Macht nach und nach von der Ostküste in die Mitte und an die Westküste verlagert – ja. Aber dass es friedlicher werden wird – nein. Die Amerikaner glauben, sie seien die stärkste Macht der Welt, und ihre Technologie, ihr Erfindungsreichtum und ihre Kreativität würden immer aufs Neue dafür sorgen, dass sie die Nummer eins bleiben. All die neuen Erfindungen rund um das Internet sind ihre Schöpfungen. Dem Wesen ihrer Gesellschaft gemäß wird der Einzelne belohnt. Also sagen sie: Versuch es! Sei nicht neidisch auf Bill Gates, sei der nächste Bill Gates! Das ist ihre Philosophie. Sie mag sich allerdings mit der Zeit verändern, wenn immer weniger Figuren wie Bill Gates auftauchen.
    SCHMIDT Wenn ich amerikanischer Politiker wäre, würde ich mir darüber Sorgen machen, dass meine Soldaten nicht in die Gesellschaft integriert sind. Die amerikanischen Soldaten kommen heute immer häufiger aus den untersten Schichten, insbesondere im Heer, aber auch schon bei den Marines. Und diese jungen Leute werden nach Afghanistan, in den Irak und an andere Orte geschickt. Ich frage mich, wie lange das ohne Aufbegehren so weitergehen wird.
    LEE Ich sehe nicht, dass von der Armee eine Rebellion droht. In den meisten Ländern ist es zu Friedenszeiten genau so: Das Militär rekrutiert sich aus den Unterschichten.
    MATTHIAS NASS Die amerikanische Gesellschaft ist zweifellos extrem polarisiert. Als Barack Obama sein Amt antrat, sagte er, er wolle die Gesellschaft versöhnen und die Vereinigten Staaten wieder vereinigen. Er ist gescheitert. Warum ist die amerikanische Gesellschaft heute so polarisiert?
    SCHMIDT Ich denke, die Polarisierung wird in Amerika heute überbewertet. Es gibt sie, aber man sollte sie nicht überbewerten.
    LEE In einer Verfassung wie der amerikanischen, die Gewaltenteilung vorsieht, passiert es immer wieder, dass Kongress und Regierung sich gegenseitig blockieren. Präsident, Repräsentantenhaus, Senat, jeder kontrolliert den anderen, und jeder hat eine andere Wählerschaft hinter sich. Jefferson und Madison haben die Verfassung aber deshalb so gestaltet, weil sie verhindern wollten, dass der Präsident zu stark wird.
    SCHMIDT Das Prinzip hat bei verschiedenen Gelegenheiten nicht wirklich funktioniert. Die amerikanische Verfassung war zu dem Zeitpunkt, zu dem sie geschrieben wurde, eine der besten der Welt. Doch das scheint nicht mehr der Fall zu sein. Der Präsident wird gewählt, weil er aus den Reihen der konservativen Partei, Republikaner genannt, oder der liberalen Partei, Demokraten genannt, kommt; sobald er gewählt ist, soll er aber die gesamte Nation repräsentieren. Bis zum Wahltag kämpft man gegeneinander, dann ist man vier Jahre im Amt – das ist eine relativ kurze Zeitspanne –, und die Hälfte der Zeit braucht man, um für seine Wiederwahl zu arbeiten.
    LEE Ich würde es noch zuspitzen: In den ersten beiden Jahren arbeitet sich der Präsident ein, und in den letzten beiden Jahren steht er im Kampf um eine zweite Amtszeit.
    SCHMIDT Sehr richtig. Außerdem ist das Staatsoberhaupt zugleich Regierungschef, nein, er ist eigentlich die Regierung. Als die Verfassung Ende des 18. Jahrhunderts geschrieben wurde, gab es übrigens keine Globalisierung und keine globalen Kriege. Heutzutage ist der US-Präsident zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte in einer völlig veränderten Welt.
    MATTHIAS NASS Wir haben über Amerika gesprochen und zuvor über China. Ich möchte das Gespräch jetzt gern auf Europa lenken. Wo bleibt Europa in dieser neuen »pazifischen Welt« – wirtschaftlich, politisch, strategisch? Welche Rolle wird Europa im 21.

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