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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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System zu verändern, können sie die Chinesen nicht aufhalten. Das System zu verändern würde aber bedeuten, den eigenen Lebensstandard zu verringern. Also müssen sie sich an eine neue Welt anpassen, in der auch entfernte Nachbarn Konkurrenten sind.
    SCHMIDT Vor sechs oder sieben Jahren habe ich ein Buch mit dem Titel »Nachbar China« veröffentlicht, das heute bereits durch die Ereignisse überholt scheint. Wir haben ja schon über die Veränderungen in China gesprochen, nachdem Mao weg war und Deng die Macht übernommen hatte. Dann kam als Regierungschef Li Peng, nach ihm Zhu Rongji, dann Wen Jiabao. An der Spitze der Partei stand erst Jiang Zemin, jetzt ist Hu Jintao und demnächst Xi Jinping an der Macht. Es sind enorme Veränderungen erfolgt, die das chinesische Volk so wohl kaum vorausgesehen hat.
    LEE Wie hätte man es voraussehen können? Heute ist China Teil einer globalen Welt, die Entwicklung im Land wird nicht mehr allein durch Peking bestimmt. Als das große Erdbeben Sichuan erschütterte – das war vor Einführung des Smartphones –, musste man ein, zwei, drei Wochen warten, bis man davon erfuhr, und Peking entschied, wie das Unglück der Welt präsentiert wurde. Heute übermittelt jemand, der am Ort ist, einem Bekannten die Neuigkeit, und schon geht sie um die Welt. Es gilt also ein neues China zu regieren, das mit der Welt vernetzt ist.
    SCHMIDT Ich erinnere mich an ein langes Gespräch mit Deng. Das war 1984 , während der Vorbereitungen zum fünfunddreißigsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. Wir saßen zusammen, nur wir beide und ein Dolmetscher; wir kannten uns seit ungefähr zehn Jahren, also kannten wir uns in gewisser Weise recht gut, und es war ein sehr offenes Gespräch. Ich zog ihn ein bisschen auf, indem ich zu ihm sagte: In gewisser Hinsicht sagt ihr chinesischen Kommunisten nicht die Wahrheit, denn ihr nennt euch Kommunisten, tatsächlich aber seid ihr Konfuzianer. Das schockierte ihn irgendwie; er brauchte einige Sekunden, dann gab er mir eine Antwort, die nur aus zwei Worten bestand: »So what!«

Mit Huang Hua, dem ehemaligen chinesischen Außenminister und ersten UN-Botschafter der Volksrepublik, am Rande einer Tagung des Interaction Council 1989 in Washington.
    © Archiv Helmut Schmidt

LEE (lacht) Ein großer Mann! Er stellte sich der Realität. Es gibt fünf Elementarbeziehungen im Konfuzianismus, die jeder Chinese versteht, ohne sie gelernt zu haben, nämlich die Beziehung zwischen Mann und Frau, Eltern und Kind, die Beziehung zwischen Brüdern, das Freund-Feind-Verhältnis und die Treue zum Herrscher.
    SCHMIDT In den letzten dreißig Jahren ist in China ein Phänomen zu beobachten, das mich stark an das konfuzianische System erinnert, ich meine die Art, wie Prüfungen abgenommen werden. Man musste zunächst eine Prüfung auf Kreisebene ablegen, danach eine auf Provinzebene, dann kam ein Wettbewerb auf Landesebene, und man musste diesen Wettbewerb wiederholen.
    LEE Es gibt einen Unterschied zu früher. Vor der kommunistischen Revolution war die klassische chinesische Literatur Gegenstand der Prüfungen, man musste die Originalschriften kennen, welche die Grundlage der chinesischen Sprache und Kultur bilden. Heute muss man alles über die Kommunistische Partei wissen, und diese Bildung geht natürlich in eine andere Richtung.
    MATTHIAS NASS Kann man das chinesische System als eine Meritokratie bezeichnen, als eine Gesellschaft, in der tatsächlich die fähigsten Leute an die Spitze gelangen?
    LEE Wenn man ein gutes Regime hat, einen guten Kaiser, dann entscheidet das System der kaiserlichen Prüfungen darüber, wer welche Stellung erhält. Aber das bedeutet nicht, dass es das beste System ist. Vielmehr bedeutet es, dass der beste Prüfling, derjenige, der die Fragen am besten zu beantworten weiß, die beste Stellung bekommt. Es geht nicht darum, denjenigen zu finden, der fähig wäre, das Land zu führen. Ich bin überzeugt, dass es unter den Studenten, die Landwirtschaft, Naturwissenschaften und so weiter studieren, viele wertvolle Leute mit administrativen Fähigkeiten und einem hohen IQ gibt, der sie befähigen würde, sich in die Menschen einzufühlen und das Land besser zu regieren. Die Kommunistische Partei versucht derzeit, eine Aristokratie heranzubilden, die über ihre spezifische Qualifikation hinaus zusätzlich über die für eine gute Regierung nötigen Grundlagen verfügt. Dabei hat sie von Kreis zu Kreis unterschiedliche Erfolge. Es ist ein derart

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