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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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großes Land, dass es vom Zentrum aus nicht kontrolliert werden kann. Das Zentrum kann die Spitzenkandidaten unter die Lupe nehmen, welche die Prüfungen in den Kreisen, den Provinzen, den Provinzhauptstädten und schließlich in Peking bestanden haben. So weit reicht der Arm der zentralen Führung. Aber auf dem Weg dorthin fallen viele begabte Leute, die Führungsqualitäten mitbringen, hinten herunter.
    SCHMIDT Ich frage mich manchmal, ob es wirklich eine kommunistische Gesellschaft ist.
    LEE Nein. Es ist eine chinesische Gesellschaft. Kommunistisch ist sie nur dem Namen nach.
    SCHMIDT Mehr eine chinesische Gesellschaft als eine kommunistische?
    LEE Ja. Aber die Führung muss sich kommunistisch nennen, sie muss Mao preisen, denn wozu wäre sie sonst da?
    SCHMIDT Um die Frage umzudrehen: Ist Amerika noch ein kapitalistisches Land, oder ist es nur eine façon de parler, vom kapitalistischen Amerika zu sprechen?
    LEE Ich denke, es ist kapitalistischer als Europa.
    SCHMIDT Richtig.
    LEE Und kapitalistischer als China.
    SCHMIDT Während die europäischen Gesellschaften wiederum egalitärer zu sein scheinen als die chinesische.
    LEE Dem würde ich zustimmen. Denn die chinesische Gesellschaft befindet sich auf einer Entwicklungsstufe, auf der alles sehr schnell wächst und die Unterschiede zwischen den Erfolgreichen und den weniger Erfolgreichen sich schnell vergrößern.
    SCHMIDT Nimmt man den Lebensstandard in der Provinz Guangdong zum Maßstab, wie groß wäre dann der Unterschied zum Lebensstandard der Bauern in der Provinz Sichuan?
    LEE Am Einkommen gemessen, wäre der Unterschied sehr groß. Aber an der Kaufkraft gemessen, ist der Unterschied geringer, denn im Landesinneren sind die Dinge des täglichen Bedarfs billiger; Lebensmittel, Mieten, Schulen, Gesundheitsdienst, das alles ist preiswerter. Dennoch ist das Landesinnere erheblich im Nachteil. Deshalb ziehen die Menschen an die Küste und werden Arbeiter, die in den Städten die schweren, schmutzigen Arbeiten erledigen, ohne die Vorteile von medizinischer Versorgung und Bildung für sich und ihre Familien nutzen zu können. Inzwischen hat die Regierung erkannt, dass diese Menschen nicht aufs Land zurückgehen, sondern bleiben werden, und deshalb versucht man die Städte dazu zu bringen, Verantwortung für sie zu übernehmen.
    SCHMIDT Das System der Aufenthaltserlaubnisse besteht doch noch, oder?
    LEE Ja, ein Meldesystem namens Hukou. Aber es ist nicht mehr durchsetzbar.
    SCHMIDT Es ist nicht mehr durchsetzbar?
    LEE Weil das Reisen so billig geworden ist. Sie haben Hochgeschwindigkeitszüge, schnelle Autobahnen. Das ist gut für die Wirtschaft, aber es macht auch die Menschen mobil. Und immer mehr Autobahnen und Eisenbahnstrecken lassen auch die ländlich geprägten Gebiete im Landesinneren immer näher an die Küstenprovinzen heranrücken. Deshalb überlegt man, das Hukou-System offiziell abzuschaffen. Denn inoffiziell gilt es bereits als nicht mehr praktikabel.
    SCHMIDT Stammt die Idee, all diese Autobahnen, Flugplätze und Eisenbahnstrecken zu bauen, um den Reichtum der Küstengebiete auch ins Landesinnere, in den Westen und Nordosten zu bringen, noch aus der Zeit Deng Xiaopings, oder ist sie im Wesentlichen erst im 21. Jahrhundert entstanden?
    LEE Begonnen wurde damit zum Großteil schon in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, bald nach Dengs Entscheidung, China zu öffnen. Um möglichst kostengünstig produzieren zu können, brauchte man eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur.
    SCHMIDT Ich möchte noch einige Sätze dem hinzufügen, was ich vorhin über Europa gesagt habe, weil es möglicherweise einen falschen Eindruck bei Ihnen hinterlassen hat. Trotz des demographischen Rückgangs der Europäer und trotz der enormen Schwierigkeiten beim Aufbau einer wirklichen europäischen Union, fehlt es mir nicht gänzlich an Optimismus. Ich bin ziemlich sicher, dass die Europäer am Ende des 21. Jahrhunderts immer noch eine bedeutende Rolle auf dem Gebiet der »soft power« spielen, insbesondere bei Literatur, Musik und bildender Kunst. Ich war ungefähr zehn Jahre Jury-Mitglied des vom japanischen Kaiserhaus gestifteten Praemium Imperiale, der jährlich fünf Preise auf fünf Gebieten der Kunst vergibt: für Malerei, Skulptur, Musik, Architektur und Film. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um die Preisträger kennenzulernen, darunter einen chinesischen Architekten, einen brasilianischen Architekten, einen indischen Musiker. Aber woher sie

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