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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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hat, dem britischen Abgesandten, der 1793 am Kaiserhof empfangen wurde: Wir brauchen diesen Tand nicht. Heute ist China bemüht, sich so schnell wie möglich alles anzueignen: Erfindungen, Techniken, die ganze Forschung und Entwicklung, die in Amerika stattfindet. Indien ebenso. Aber Indien hat eine Oberschicht, die sogenannten Brahmanen; es sind Priester und Kinder von Priestern, sehr clevere Leute. Sie machen zwei bis vier Prozent der Bevölkerung aus, sind sehr klug und verstehen die Welt. Doch das bedeutet nicht, dass sie Indien verändern. Sie lassen Indien, wie es ist. Sie können es nicht verändern. In China kommt die Veränderung voran, weil die Führung der Ansicht ist: Wir sind zurückgeblieben, wir haben an Boden verloren, weil wir den Westen ausgeschlossen haben, jetzt müssen wir aufholen.
    SCHMIDT Ich denke, gegen Ende des europäischen Mittelalters, grob gesagt um das Jahr 1500 herum, war die chinesische Kultur, einschließlich der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, auf vielen, vielen Gebieten, zum Beispiel in der Medizin und bei der Navigation, der europäischen Kultur überlegen. Dann entwickelten die Europäer nach und nach etwas, was sie Demokratie nannten, etwas, was die Amerikaner heute Kapitalismus nennen, und etwas, was die Amerikaner neuerdings »Responsibility to Protect« nennen, das heißt Verantwortung für die Menschenrechte in anderen Staaten. Aus der Kombination dieser drei völlig verschiedenen Elemente haben die Europäer ein Ganzes gemacht, von dem sie glauben, dass es für alle passt. Die Chinesen und viele andere Völker, etwa in der arabischen Welt, aber auch die Menschen in Singapur glauben das nicht. Kapitalismus und Industrialisierung würden sie übernehmen, aber nicht Demokratie und Menschenrechte.
    LEE Ich wäre in dieser Hinsicht vorsichtig. Die Inder zum Beispiel haben eine Demokratie.
    SCHMIDT Ja, die Oberschicht.
    LEE Nein! Das Land wird seit mehreren hundert Jahren nach demokratischen Regeln regiert. Es ist so unterschiedlich, dass jedes andere System die einzelnen Staaten voneinander getrennt hätte. Sie beweisen also, dass die Demokratie in einem östlichen Kontext funktionieren kann. Das chinesische Konzept einer prosperierenden, friedlichen Nation wiederum ist nicht auf dem Wettstreit zwischen Alternativen begründet, sondern auf dem Konsens darüber, in welche Richtung man gehen will. Deshalb ist die Diskussion in China weniger lebendig, sie findet hinter verschlossenen Türen innerhalb der Führung statt. Wir in Singapur führen das britische System mit offener Aussprache und offener Diskussion fort. Nichts wird blockiert, alles ist frei zugänglich, Internet, Facebook, Twitter. In China sind Facebook und Twitter verboten, weil die Führung versucht, den Informationsfluss zu kontrollieren, damit das Volk nicht von der Richtung abweicht, in die es gehen soll. Was meiner Meinung nach ein Fehler ist.

Treffen mit Zhu Rongji, Ministerpräsident der Volksrepublik China von 1998 bis 2003.
    © Archiv Helmut Schmidt

SCHMIDT Ich stimme Ihnen zu, würde aber noch hinzufügen, dass keine der großen Weltreligionen die Gläubigen dazu anhält, mit anderen Religionen zu konkurrieren, ein solches Gebot gibt es nirgendwo. Wohl aber gibt es Missions-Befehle. Außerdem fehlt fast überall das Bestreben, die Rechte des Einzelnen durchzusetzen, auch Menschenrechte genannt. Wir sprechen also über Dinge, die wenig mit unseren religiösen Büchern zu tun haben.
    LEE Nun, weder die Chinesen noch die Japaner, noch die Koreaner glauben, dass es ihre Sache ist, anderen Völkern zu sagen, wie sie sich verändern müssen und wie sie besser regiert werden können. Das ist eure Sache, sagen sie: »Wir möchten uns mit euch in neutralen Begriffen verständigen, wir versuchen nicht, euch zu verändern. Ihr müsst uns nicht folgen, und wir müssen euch nicht folgen.« Der Westen hat dagegen diesen evangelikalen Zug, den Glauben, dass er ein System von universalem Wert besitzt, das über die ganze Welt verbreitet werden muss: Demokratie und Menschenrechte. In Indien hat man aus besonderen Gründen, die nur die Inder verstehen, die Demokratie angenommen, aber nicht die Menschenrechte; in Indien gibt es die meisten exzessiven Verletzungen der Menschenrechte. In China beginnt sich die Idee der Menschenrechte gerade erst einzunisten. Aber die Vorstellung, dass der Staat die oberste, unangreifbare Instanz ist, die nicht in Frage gestellt werden darf, beherrscht immer noch das

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