Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Schieferöl war übrigens schon bekannt, als ich 1950 das erste Mal die Vereinigten Staaten besuchte. Damals wurde es nicht beachtet, weil es viel zu teuer war. Heute wird es genutzt.
LEE Ebenso wie Teersand in Kanada.
SCHMIDT Ja.
LEE Aber wenn man die Produktionskosten vergleicht, ein Dollar pro Gallone für arabisches Öl gegenüber fünf bis zehn Dollar für Schieferöl und Teersand …
SCHMIDT Vielleicht wird im 22. Jahrhundert gar kein Erdöl mehr benötigt.
LEE (lacht) Nein. Ich bete dafür, dass man eine sichere Atomkrafttechnik entwickelt. Man kann heute bereits kleine Maschinen bauen und in U-Booten verwenden; sie sind sicher, und die Mannschaft ist es auch. Aber bei den großen Atomkraftwerken wurden durch Tschernobyl und jetzt Fukushima viele Fragen aufgeworfen. Ihre Kanzlerin hat die Atomkraftwerke ja abgeschaltet.
SCHMIDT Sie hat sie ein bisschen zu früh abgeschaltet. Ich neige immer noch zu der Ansicht, dass wir lernen werden, die gesamte notwendige Energie und Wärme aus dem Innern der Erde zu holen. Im kleinen Island, in Reykjavik, habe ich gesehen, dass niemand für die Heizung seiner Wohnung und für den Strom etwas bezahlen muss, weil die gesamte Wärme aus der Erde kommt. Sie graben nicht einmal danach. Die Wärme ist einfach da.
LEE In Form von Geysiren.
SCHMIDT Ja. Und wenn man zweitausend, dreitausend oder viertausend Meter tief gräbt, ist dies die Energiequelle des nächsten Jahrhunderts.
LEE Ich habe gegrübelt – also mehr geträumt als gedacht –, wie man die Sonnenenergie direkt nutzen kann, statt sie nach Tausenden von Jahren in konzentrierter Form aus der Tiefe zu holen. Das einzige Mittel, unseren Energiebedarf dauerhaft zu sichern, wäre die Atomkraft. Aber Tschernobyl und Fukushima haben allen eine Heidenangst eingejagt, außer den Franzosen, glaube ich, die sie weiterhin nachdrücklich fördern.
SCHMIDT Ich denke, dass noch jemand seine Atomprogramme weiterführt – die Chinesen.
LEE Sie ziehen sich jetzt aber vorsichtig ins Landesinnere zurück, wo es keine Erdbeben gibt und sich weite Wüstengebiete erstrecken, in denen nur wenige Menschen leben, die von einem eventuellen Fallout betroffen sein könnten.
SCHMIDT Das heißt, sie agieren noch vorsichtiger als bisher, geben aber das Prinzip nicht auf.
LEE Sie können es nicht aufgeben, weil die Kohle das gesamte Land verschmutzt.
Dritte Gesprächsrunde
SCHMIDT Ich muss Sie nach Ihrem Jackett fragen. Es ist sehr schön. Wo kommt es her?
LEE Aus China.
SCHMIDT Ist es ein chinesisches Jackett?
LEE Ja. Sie können auch nach China fahren und sich eines holen.
SCHMIDT Nein, nein. Und dieser schmale rote Kragen hier oben – sehr schön! ( LEE lacht.)
MATTHIAS NASS Wir wollten über die Probleme zwischen Ost und West im Allgemeinen reden, über Themen wie Entwicklung, Demokratie, Stabilität, Werte. Ich habe ein Zitat von Rudyard Kipling mitgebracht, aus der »Ballade von Ost und West«: »Oh East is East, and West is West, and never the twain shall meet« (»Ost ist Ost und West ist West, und es verbindet sie nichts, bis Himmel und Erde stillstehen«). Trifft das so noch zu?
LEE Es trifft nicht mehr zu, und zwar aufgrund der Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten. Sie verändern den Osten allmählich, und vielleicht verändern sie im Westen die Wahrnehmung des Ostens. Denn es gibt mehr Leute als uns hier, die einander verstehen.
SCHMIDT Mir scheint, dass die Wahrnehmung des Ostens im Westen derjenigen des Westens im Osten hinterherhinkt.
LEE Ich kann dazu nichts sagen, weil ich nicht im Westen lebe, ich besuche ihn nur. Aber die Menschen, die ich kennenlerne – die zur Führungsschicht gehören –, reisen und kennen sich aus.
SCHMIDT Sofern sie reisen. Aber nicht jeder, der reist, versteht, was er sieht. Vor allem nicht jeder Außenminister! (Beide lachen.)
LEE Aber wenn man Menschen auf der anderen Seite kennt, von denen man weiß, dass sie Freunde sind, dann kann man feststellen, wie sich ihre Wahrnehmung verändert.
MATTHIAS NASS Seit Beginn der Industrialisierung ist das westliche ökonomische und politische Modell dominant. Auch Asien ist davon beeinflusst. Die Frage ist, ob der Westen für Asien auch heute noch ein Vorbild ist. Oder braucht Asien dieses Vorbild nicht mehr?
LEE Nein. Es muss sich industrialisieren, weil es zurückgeblieben war, weil es sich geweigert hatte, die Industrialisierung und Automatisierung des Westens zu übernehmen. Sie wissen, was Kaiser Qianlong zu Lord Macartney gesagt
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