Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
großen Auswirkungen: Nach nur fünfzig Jahren trat Japan als nahezu gleichgestellte Macht in den Ersten Weltkrieg ein. Eine erstaunliche Entwicklung! Das Land hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso weit zurückgelegen wie China in den 1990er Jahren.
LEE Und heute stehen sie vor dem Problem des Bevölkerungsschwunds.
SCHMIDT Trotzdem wächst die Weltbevölkerung weiter explosionsartig.
LEE Ja, der Teil der Weltbevölkerung, der weder das Wissen noch die Fähigkeiten besitzt …
SCHMIDT Was für eine schreckliche Vorstellung, eine Welt mit neun Milliarden Intellektuellen! (Beide lachen.)
LEE Im Übrigen ist Ihre Vorstellung, Japan sei eine lupenreine Demokratie, nicht ganz richtig. Japan hat noch immer das Samuraisystem: Die Fraktionen im Parlament werden von Samurais geführt.
SCHMIDT Von Samurais?
LEE Richtig.
SCHMIDT Jetzt habe ich Zweifel, dass Sie recht haben. Die Japaner würden Ihre Aussage sicher nicht akzeptieren.
LEE Es ist doch ein eigentümliches Demokratieverständnis, dass das Mandat, das der Vater innehat, innerhalb der Familie vererbt wird. Die Menschen wählen also die Familie.
SCHMIDT Und wenn der Vater, bevor er den Parlamentssitz erhielt, ein hochrangiger Beamter zum Beispiel im Finanzministerium war, arbeitet sein Sohn ebenfalls im Finanzministerium.
LEE Doch dieses System wird heute in Frage gestellt, und es wird zweifellos eine Transformation durchmachen. Auch das japanische Volk hat seinen Horizont erweitert; die Japaner können heute nach Amerika und Europa reisen, und sie glauben nicht mehr, dass ihr System gerecht ist. In den Augen der Mehrheit ist es ein System, das den Zweck hat, die Herrschaft der Elite aufrechtzuerhalten.
MATTHIAS NASS In Taiwan gibt es heute eine Demokratie. Kann man daraus schließen, dass in China die Demokratie grundsätzlich möglich ist, dass sie nicht im Widerspruch zur chinesischen Tradition steht?
LEE In gewisser Weise, ja. Das taiwanesische Fernsehen wird auch auf dem Festland gesehen; die Menschen gewinnen so den Eindruck, sie besäßen Macht über ihre Führung und könnten die Politik in ihrem Sinn verändern. Aber die Führung in Peking will diese Veränderung nicht, also wird sie unterdrückt. Wie lange sie sich unterdrücken lässt, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass die Veränderung, wenn sie denn kommt, keine Nachahmung Taiwans sein wird. Erstens ist das Land zu groß: Man kann nicht einen Mann landesweit als Kandidaten zur Wahl stellen, 1,3 Milliarden Menschen können nicht für einen Präsidenten stimmen, so wie es die Amerikaner können. Zweitens gibt es keine entsprechende Tradition. Nach der Tradition ist das Zentrum stark und mächtig, und das Land prosperiert. Sie besagt nicht, dass das Zentrum mich aufgrund meiner geheim abgegebenen Stimme repräsentiert und das Land deshalb prosperiert.
SCHMIDT Ich war mehrmals in Taiwan und erinnere mich besonders an einen Besuch ein oder zwei Jahre vor der Abschaffung der Diktatur in der Tradition Chiang Kai-sheks. Der damalige Oppositionsführer äußerte sich antichinesisch. Sein Nachfolger wurde dann der erste demokratische Präsident, aber auch er äußerte sich antichinesisch. Ich war eingeladen, eine Rede zu halten. Als Privatmann ohne Amt sagte ich offen meine Meinung und erklärte den Zuhörern: Sie werden ein Teil Chinas werden. Es mag zwanzig oder fünfzig oder hundert Jahre dauern, aber Sie werden mit China vereinigt werden, mit zwei unterschiedlichen Systemen zwar, aber in einem Land. Es gab einen allgemeinen Aufschrei der Empörung! Alle waren dagegen. Das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her.
LEE Die Bevölkerung im Norden besteht aus Menschen, die auf der Flucht vor den Kommunisten vom Festland gekommen sind und an die Wiedervereinigung glauben. Der Süden ist seit über zweihundert Jahren nicht mehr von China regiert worden, seit den Portugiesen. Die Menschen dort wollen nichts mit China zu tun haben.
SCHMIDT Was ich bei meinen Besuchen am meisten bedauert habe, war die Tatsache, dass Chiang Kai-shek diese einmaligen Kunstschätze vom Festland mitgenommen und in sein Palastmuseum in Taipeh gebracht hat. Es ist für mich das aufregendste Museum der Welt.
LEE Hätte er es nicht getan, wären sie im Chaos des Bürgerkriegs geplündert worden und verlorengegangen. Und wären später bei Sotheby‘s versteigert und in alle Welt verkauft worden.
SCHMIDT Das hätte passieren können. Meine Frage lautet, ob sie eines Tages zurückkehren werden.
LEE Eines Tages, ja. Denn
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